Wie SPD und Grüne die Brandmauer beseitigten

"Es gilt viele Mauern abzubauen" - Bildnis an der ehemaligen DDR-Grenzbefestigung in Berlin

Sozialdemokraten und Grüne verlangen von der CDU, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten. Dabei haben sie selber keine Hemmungen gezeigt, mit Extremisten zu koalieren.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Berliner kennen den Begriff seit Langem. Die fünfstöckigen Wohnbauten aus der Zeit der Jahrhundertwende enden oft mit einer „Brandmauer“: Riesige kahle Wände aus unverputzten Ziegelsteinen, die das Übergreifen von Feuer verhindern sollen. Die fensterlosen Fassaden sieht man vielerorts bis heute, inzwischen meist verputzt und von Graffiti-Künstlern mit großflächigen Bildern verziert.

Im politischen Sprachgebrauch kann von einer solchen Verschönerung bislang keine Rede sein. Im Gegenteil: Das Wort von der Brandmauer wird stets aggressiv und alarmierend vorgetragen. Es suggeriert, dass es im Lande brennt und man sich vor den Flammen durch eine unüberwindliche Wand schützen müsse. Das Feuer ist die AfD, die in Umfragen zweitstärkste Partei Deutschlands.

Die Forderung, eine Brandmauer zur AfD zu errichten, zielt vor allem auf die CDU. Denn in den meisten deutschen Parlamenten sind die linken Parteien in der Minderheit. Nur wenn CDU und AfD nicht zusammengehen, ist gewährleistet, dass SPD, Grüne und Linkspartei nicht alle auf der Oppositionsbank landen.

Die Brandmauer zielt auf die CDU – Wahlplakat zur Bundestagswahl 2017 in Oldenburg (1)

Vor zwanzig Jahren gab es schon einmal eine solche Konstellation, allerdings auf der anderen Seite des politischen Spektrums. In mehreren ostdeutschen Landtagen hatten linke Parteien damals eine Mehrheit – die aber nicht zum Zuge kam, weil eine Brandmauer dies verhinderte. Es ist Zeit, in Erinnerung zu rufen, wie SPD und Grüne diese Mauer zum Einsturz brachten und welche Folgen das hatte.

SED-Funktionäre und Stasi-Mitarbeiter

Wir schreiben das Jahr 1994. Fünf Jahre sind vergangen, seitdem in Ostdeutschland eine sozialistische Diktatur gestürzt wurde, seit vier Jahren ist Deutschland wiedervereinigt. Die herrschende Partei der DDR nennt sich jetzt PDS und geriert sich als ostdeutsche Protestpartei. In den Schlüsselpositionen sitzen meist frühere SED-Funktionäre sowie mehrere ehemalige Stasi-Mitarbeiter. Vorsitzender dieser Partei ist der letzte SED-Chef Gregor Gysi, den das Ministerium für Staatssicherheit unter dem Decknamen „Notar“ führte.

Die umbenannte Diktaturpartei lehnt das System der Bundesrepublik rundheraus ab. „Der Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel,“ heißt es in ihrem Parteiprogramm vom Januar 1993, „wir sind uns daher einig, dass die Herrschaft des Kapitals überwunden werden muss.“ Die DDR sei ein Versuch dazu gewesen und habe den Menschen ein in vielerlei Hinsicht besseres Leben beschert: „Zu ihren Erfahrungen zählen die Beseitigung von Arbeitslosigkeit, weitgehende Überwindung von Armut, ein umfassendes soziales Sicherungssystem, bedeutende Elemente sozialer Gerechtigkeit, insbesondere ein hohes Maß an sozialer Chancengleichheit im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Kultur, neue Rechte für Frauen und Jugendliche.“

„Der Sozialismus ist ein notwendiges Ziel“ – PDS-Vorsitzender Gregor Gysi im Bundestagswahlkampf 1990 (2)

Im Januar 1995 bekräftigt ein Parteitag diese Positionen. Er verabschiedet ein Fünf-Punkte-Papier, in dem es heißt, dass „die PDS in prinzipieller Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland“ stehe. In deren Mitgliederzeitschrift schreibt der PDS-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus Peter Rudolf Zotl, viele Bürger im Osten wollten die „Brechung der Parteienherrschaft“. Er ist SED-Mitglied seit 1964 und war Dozent an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der DDR-Staatspartei.

Wegen ihrer politischen Ausrichtung ist die PDS ein Fall für den Verfassungsschutz. Das Bundesamt widmet ihr in seinem Bericht über das Jahr 1994 mehrere Seiten. Zur Bundestagswahl, so erfährt man dort, seien etwa 50 Personen aus linksextremistischen Organisationen auf „offenen Listen“ oder als Direktkandidaten der PDS angetreten. Bei der Europawahl habe für sie sogar ein Mitglied des DKP-Parteivorstands kandidiert. Drei frühere DKP-Aktivisten seien über Landeslisten in den Bundestag einzogen. „Insgesamt ergeben sich aus einer Reihe von Zielsetzungen der Partei und programmatischen Aussagen bis in die Parteispitze tatsächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen der Gesamtpartei.“

Als linksextremistisch wertet der Verfassungsschutz insbesondere die „Kommunistische Plattform in der PDS“ (KPF). Die etwa 5000 Mitglieder umfassende Organisation sei in fast allen wichtigen Parteigremien vertreten, auch im Parteivorstand. Dort sitzt die Hardcore-Kommunistin Sahra Wagenknecht, die als Sprecherin der KPF fungiert und deren Vorbild die KPD-Gründerin Rosa Luxemburg ist. In einer Selbstdarstellung, so der Verfassungsschutz weiter, habe die KPF erklärt, Grundlage ihrer Politik sei der wissenschaftliche Kommunismus, wie er durch Lenin, Trotzki oder Mao Tse-Tung weiterentwickelt worden sei. Ziel sei die revolutionäre Transformation der Bundesrepublik in eine klassenlose Gesellschaft.

„Revolutionäre Transformation der Bundesrepublik“- Sahra Wagenknecht beim Gedenken für Rosa Luxemburg

Die im Bundestag vertretenen Parteien sind sich einig, dass man mit einer solchen Truppe nicht zusammenarbeiten darf. Sorgen bereiten jedoch deren Wahlerfolge in Ostdeutschland. Bei den Landtagswahlen 1994 erzielt sie zwischen 16,5 (Sachsen) und 22,7 (Mecklenburg-Vorpommern) Prozent. Hauptleidtragende ist die SPD, die bis auf Brandenburg nur noch auf Platz zwei in der Wählergunst kommt. Für sie ist die Entwicklung besonders schmerzhaft, weil ihre Gründer aus der DDR-Bürgerrechtsbewegung stammen und die SED einst Tausende Sozialdemokraten ins Gefängnis warf.

In einer „Dresdner Erklärung“ bekräftigen die ostdeutschen SPD-Chefs deshalb im August 1994: „Die PDS ist ein politischer Konkurrent und Gegner der SPD. Eine Zusammenarbeit mit ihr kommt für uns nicht in Frage.“ Auch der Bundesvorstand der SPD ist dieser Meinung. Im Dezember 1994 erklärt er: „Koalitionen auf Landes- oder Bundesebene mit der PDS kommen nicht in Betracht.“ Nicht einmal in der Opposition will man mit ihr etwas zu tun haben: „Wo die SPD an der Regierung beteiligt ist, ist die PDS in der Opposition, wo die SPD selber in der Opposition ist, gibt es keine Koalition in der Opposition.“

Neue Machtoption der SPD

Nach den Erfolgen der PDS bei den Landtagswahlen 1994 bröckelt jedoch die Front der Ablehnung. Ehemalige Bürgerrechtler wie Markus Meckel oder Stephan Hilfsberg haben in der Ost-SPD immer weniger zu sagen. Stattdessen geben zunehmend Karrieristen den Ton an. Diese wollen ins Zentrum der Macht und nicht länger nur Juniorpartner der CDU sein. Doch sie können nur dann den Ministerpräsidenten stellen, wenn die PDS diesen unterstützt.

Bröckelnde Front der Ablehnung – Demonstration „Aufstehen und Demokratie verteidigen“ 2024 in Berlin (3)

Genau das findet im Juli 1994 in Sachsen-Anhalt statt. Die SPD liegt mit 34 Prozent der Stimmen knapp hinter der CDU. Obwohl SPD-Fraktionschef Reinhard Höppner vor den Wahlen erklärt hat, sich eine Tolerierung durch die PDS „nicht vorstellen“ zu können, bildet er jetzt mit Hilfe der PDS eine rot-grüne Minderheitsregierung. Das sogenannte Magdeburger Modell rechtfertigt er damit, die PDS durch ihre partielle Einbindung „entzaubern“ zu wollen.

Anfangs versuchen SPD und Grüne noch, die Zusammenarbeit mit der PDS zu kaschieren. Offiziell gilt die Partei im Landtag als Opposition. Doch bei einem Misstrauensvotum gegen Höppner hilft sie ihm 1996 erneut, im Amt zu bleiben. Die CDU ruft deshalb das Landesverfassungsgericht an, damit der PDS der Status als Oppositionspartei aberkannt wird. Die SPD beteuert jedoch, es hätte keinerlei Absprachen gegeben.

In Mecklenburg-Vorpommern herrscht 1994 eine ähnliche Lage. Nach den Landtagswahlen im Oktober kündigt SPD-Spitzenkandidat Harald Ringstorff an, Sondierungsgespräche mit der PDS zu führen, um sich von ihr zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen. Doch SPD-Chef Rudolf Scharping droht ihm mit Parteiausschluss. Zwei Jahre später nimmt Ringstorff einen zweiten Anlauf, sich von der PDS zum Regierungschef küren zu lassen. Diesmal interveniert NRW-Regierungschef Johannes Rau und Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering pfeift die Genossen im Norden zurück.

Treibende Kraft beim Abriss der Brandmauer ist – neben Höppner und Ringstorff – der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse. Er schreibt 1994 an SPD-Parteichef Rudolf Scharping, dass die PDS auf kommunaler Ebene als Partner „unvermeidbar“ sei. „Sie agiert dabei sachlich, pragmatisch, bürgernah mit Dienstleistungscharakter.“ In einem vertraulichen Brief an die thüringische SPD-Fraktion, der aus Versehen bei Bündnis‘90 landet, meint er, die Ausgrenzung der PDS „beleidige nahezu jeden ehemaligen DDR-Bürger“.

Treibende Kraft beim Abriss der Brandmauer – SPD-Politiker Wolfgang Thierse mit Wladimir Putin im Juni 2000 (4)

1996 tritt Thierse auch auf Landesebene für Koalitionen ein. In einem Thesenpapier für ein Treffen ostdeutscher Sozialdemokraten schreibt er, die SPD könne „einer Zusammenarbeit mit der PDS nicht ausweichen, wenn und insofern sie damit den politischen Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler erfüllt.“ Um die Wähler nicht zu vergraulen, sollten konkrete Aussagen dazu jedoch „möglichst erst dann erfolgen, wenn ein vorliegendes Wahlergebnis ein konkretes Verhalten der SPD erforderlich macht.“

Die erste Koalition

1998 ist es dann soweit. Nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im April 1998 erklärt Höppner unverblümt: „Die PDS steht, das ist meine Überzeugung, auf dem Boden des Grundgesetzes.“ Wenig später bildet er mit ihrer Hilfe eine neue SPD-Minderheitsregierung. In Mecklenburg-Vorpommern geht die SPD noch weiter. Bereits während der Koalition mit der CDU stimmt sie immer häufiger mit der PDS gegen ihren Regierungspartner. Nach den Wahlen im September vereinbart Ringstorff dann mit PDS-Chef Helmut Holter die erste rot-rote Koalition Deutschlands. Holter studierte an der Parteihochschule der KPdSU und war in der DDR Mitarbeiter der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg.

Von der Brandmauer ist danach nicht mehr viel übrig. 2001 lässt sich auch der Berliner SPD-Fraktionschef Klaus Wowereit mit Hilfe der PDS zum Regierenden Bürgermeister wählen. Nach vier Monaten Tolerierung bildet er in der einstigen Mauerstadt die zweite rot-rote Koalition auf Landesebene. 2009 folgt Brandenburg unter Matthias Platzeck. Seine Verhandlungspartnerin ist Kerstin Kaiser, eine ehemaligen Mitarbeiterin der Parteischule beim Zentralkomitee der SED, die während ihres Studiums in Leningrad für die Stasi spitzelte.

Platzecks Verhandlungspartnerin – Ex-Stasi-Mitarbeiterin Kerstin Kaiser (r.) mit Linken-Politiker Bodo Ramelow (5)

Reste der Brandmauer existieren jetzt nur noch in Westdeutschland. Als die hessische SPD-Chefin Andrea Ypsilanti nach den Landtagswahlen 2008 wie in Sachsen-Anhalt eine rot-grüne Minderheitsregierung bilden will, scheitert sie. Vier SPD-Abgeordnete erklären vor der geplanten Wahl, gegen sie stimmen zu wollen. Ypsilanti bläst ihr Vorhaben ab und tritt zurück. 

In der Folgezeit gibt es für die SPD-Führung nur noch einen Grund, nicht mit den SED-Erben zusammenzuarbeiten: Oskar Lafontaine – der einst geliebte, dann gehasste ehemalige Parteichef. 1995 stürzte er Rudolf Scharping, um 1999 überraschend alle Ämter niederzulegen und schließlich Gysis Partei beizutreten, die sich dafür in Die Linke umbenannte. Nach Lafontaines Rücktritt als Partei- und Fraktionschef der Linken gibt es für die SPD keine Halten mehr.

2014 brechen SPD und Grüne das letzte Tabu: Mit Bodo Ramelow wählen sie in Thüringen erstmals einen Linken-Politiker zum Regierungschef. Fünf Jahre später erklärt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, ihre Partei sei nun auch auf Bundesebene zu einer Koalition bereit. „Wir öffnen uns nicht gegenüber der Linkspartei, sondern positionieren uns selbstbewusst und sagen, dass wir keine Ausschließeritis mehr wollen.“ Wenig später bilden SPD und Grüne in Bremen die erste rot-rot-grüne Koalition in Westdeutschland.

„Wir wollen keine Ausschließeritis mehr“ – SPD-Chefin Andrea Nahles auf dem SPD-Sonderparteitag im April 2018 (6)

Die Geschichte, wie SPD und Grüne die Brandmauer gegenüber den SED-Erben einrissen, ist damit fast zu Ende erzählt. Bleibt noch die Frage nach den Folgen. Anders als Kritiker befürchteten, hat sich das politische System der Bundesrepublik als stabil erwiesen, auch in Thüringen ist der Sozialismus nicht zurückgekehrt. Die Postkommunisten sind vielmehr Teil des politischen Establishments geworden. Die Sachzwänge beim Regieren und die Fleischtöpfe der Macht haben sie pragmatischer gemacht, so dass sie sich inzwischen von SPD und Grünen kaum mehr unterscheiden.

Und noch etwas ist eingetreten: Dort, wo PDS und Linke mitregierten, haben sie fast immer herbe Stimmenverluste erlitten. Bei den Bundestagswahlen 2002 und 2021 scheiterten sie sogar an der Fünf-Prozent-Hürde. Für Protestwähler ist die Partei kaum mehr interessant. Nach der jüngsten Umfrage liegt die Linke bundesweit nur noch bei drei Prozent. Vielleicht ist das ja auch das Schicksal der AfD – wenn die CDU, wie es einst SPD und Grüne taten, die viel beschworene Brandmauer irgendwann einmal einreißen sollte.

Lesetipp: Hubertus Knabe, Honeckers Erben. Die Wahrheit über die Linke

Bildnachweis
(1) Anaconda74 / CC0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-1990-1028-002 / Uhlemann, Thomas / CC-BY-SA 3.0
(3) Leonhard Lenz / CC0
(4) Kremlin.ru / CC BY 3.0
(5) dielinke_sachsen / CC BY 2.0
(6) Olaf Kosinsky (kosinsky.eu) // CC BY-SA 3.0-de

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