In Berlin löst sich die Erinnerung an die tödlichen Grenzbefestigungen der DDR immer mehr auf. Verantwortlich dafür ist auch die Landespolitik, der die Aufklärung über das Unrechtsregime der SED weitgehend gleichgültig geworden ist. Ein Bericht über Trivialisierung und Umdeutung der Berliner Mauer in der deutschen Hauptstadt.
Von Hubertus Knabe
Der Schock war den Mitgliedern des Berliner Abgeordnetenhauses anzusehen. In der Nacht hatten Sicherheitskräfte der DDR überall in der Stadt Stacheldraht über die Fahrbahnen gezogen und Betonpfähle ins Pflaster gerammt. Bewaffnete Einheiten standen drohend vor dem Brandenburger Tor. Auch der U- und S-Bahn-Verkehr war unterbrochen worden und sogar die Ausflugsschiffe auf der Spree mussten kurz vor dem Reichstag kehrtmachen. Noch am Abend des 13. August 1961, einem Sonntag, waren die Abgeordneten deshalb zu einer Sondersitzung zusammengekommen.
60 Jahre später ist in Berlin vom Schock des Mauerbaus nichts mehr zu spüren. Das Abgeordnetenhaus ist zu keiner Sondersitzung zusammengetreten, um der 140 Menschen zu gedenken, die bis 1989 an der Mauer ums Leben kamen. Kein Plakat der BVG hat darauf hingewiesen, wie es war, als ihr Liniennetz über Nacht gekappt worden war. Und auf der Spree sind keine historischen Ausflugsschiffe gefahren, um mit speziellen Touren die Zeit der Teilung ins Gedächtnis zu rufen. Nichts erinnerte in diesen Tagen in Berlin an den Mauerbau vor 60 Jahren – oder genauer: Niemand hatte die Absicht, an die Mauer zu erinnern.
Die Gründe dafür haben viel mit der Berliner Politik zu tun, für die die Erinnerung an die SED-Diktatur fast nur noch ein lästiges Pflichtprogramm ist. Wie einst am 17. Juni, dem Nationalfeiertag der alten Bundesrepublik, ist das Gedenken an die Opfer des DDR-Sozialismus zu einem leidenschaftslosen Ritual erstarrt, an dem die Spitzen der Stadt mit ernstem Gesicht die immer selben gestanzten Formeln hervorbringen – wenn sie sich denn überhaupt noch dazu äußern. Der Aufgabe, die Erinnerung an die Mauer lebendig zu halten, ist Berlin augenscheinlich nicht gerecht geworden.
Die Mauer als Kunstwerk
Fragt man, woran das liegt, so fällt zuerst ins Auge, dass die Sperranlagen der DDR fast alle verschwunden sind. Am ehesten vermitteln noch ein paar großformatige Fotos im Garten der Hessischen Landesvertretung einen Eindruck davon, wie es war, als hier der Todesstreifen verlief. Die echte Mauer, die ja nicht nur aus den verstreut herumstehenden fast 3,80 Meter hohen Betonsegmenten bestand, sondern aus Kolonnenweg, Kontrollstreifen, Signalzaun, Beobachtungstürmen, Beleuchtungsanlagen, Hinterlandmauer etc., wurde hingegen unter den Augen der politisch Verantwortlichen vollständig beseitigt.
Wo dennoch Teile der Mauer eher zufällig erhalten blieben, vermitteln diese in der Regel ein falsches Bild der Grenzanlagen. So benutzten Künstler schon 1990 ein 1,3 Kilometer langes Teilstück an der Oberbaumbrücke als eine Art überdimensionale Leinwand. Die sogenannte East Side Gallery, die kurz darauf unter Denkmalschutz gestellt wurde, verleitet heute viele zu der Annahme, die DDR-Grenze sei vor allem ein bunt bemaltes Kunstwerk gewesen. Das längste erhaltene Teilstück der Mauer wurde später noch weiter verunstaltet, indem ganze Abschnitte herausgebrochen oder versetzt wurden und immer mehr modernistische Häuser in den Grenzstreifen gestellt wurden.
Nicht viel anders erging es dem Grenzgebiet an der Bernauer Straße. Von einem sogenannten Lehmbaukünstler ließ sich hier die örtliche Kirchengemeinde auf dem Todesstreifen eine „Kapelle der Versöhnung“ errichten. Später kam noch ein Roggenfeld hinzu, das jedes Jahr wieder neu angesät wird. Die einstige Grenze hat dadurch einen geradezu beschaulichen Charakter angenommen.
Die Mauerteile, die 1997 entfernt und in der Nähe abgestellt worden waren, wurden dagegen nicht wieder aufgestellt. Die benachbarte Kirchgemeinde verhinderte dies, indem sie ihr Grundstück bei der Erweiterung der Gedenkstätte Berliner Mauer als Faustpfand einsetzte. Die 19 Meter lange Lücke in der Vorderlandmauer musste deshalb mit luftigen Eisenstangen geschlossen werden. Die Mauerstücke, von Pflanzen überwuchert, stehen seitdem nutzlos auf dem Grenzstreifen herum.
Der achtlose Umgang mit der Grenze wurde erst 2004 ein Thema, als das Mauermuseum am Checkpoint Charlie ein Mahnmal für die Mauertoten aufstellte. Die erste rot-rote Koalition verhinderte damals jedoch, dass die Grenzanlagen zumindest an einer Stelle wieder vollständig hergestellt wurden. Stattdessen ließ Kultursenator Thomas Flierl, ein ehemaliger SED-Funktionär, an der Bernauer Straße auf dem ehemaligen Todesstreifen eine gepflegte Rasenfläche ansäen, die heute vor allem von Hundebesitzern frequentiert wird.
Mit seinem „Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer“ vereitelte Flierl auch, dass am Brandenburger Tor „ein Ort für die Information über und die Erinnerung an die Berliner Mauer“ entstand. Dessen Schaffung hatte der Bundestag 2005 beschlossen, um der Opfer zu gedenken und zur Auseinandersetzung mit den Folgen der Mauer anzuregen. Stattdessen wurden in einer Unterführung am Pariser Platz nur einige Monitore montiert, die heute hinter den Postkartenständern eines Kiosks kaum zu finden sind. Einer der Monitore ist schwarz, während bei einer rostbesetzten Informationsstele am Abgang zur Treppe der Ton nicht funktioniert. Die historischen Fotos, mit denen die Wände des U-Bahnhofes dekoriert wurden, erinnern eher an ein Schulbuch als an einen Gedenkort.
Trivialisierung des Todesstreifens
Nun könnte der Senat die Fehler der Vergangenheit durch umso größere Aktivitäten in der Gegenwart ausgleichen. Doch davon kann keine Rede sein. Die Landesregierung hatte für den 60. Jahrestag des Mauerbaus keinerlei Veranstaltung geplant. Es gab keine Bühne am Brandenburger Tor, keine Führung durch den Amtssitz der Schulsenatorin, von wo aus Erich Honecker einst den Mauerbau organisierte, und schon gar keine Reden vor dem Rathaus Schöneberg, wo Willy Brandt 1961 vor 300.000 Berlinern den Mauerbau verurteilte.
Stattdessen verwies der Sprecher des Senates auf Anfrage auf das „umfassende Programm“ der landeseigenen Gedenkstätte Berliner Mauer und die „Terminliste“ des Regierende Bürgermeister Michael Müller. Der nahm, wie jedes Jahr, an der üblichen Gedenkveranstaltung an der Bernauer Straße teil, wo er vor 120 geladenen Gästen eine Rede hielt. Anschließend legte er an der Peter-Fechter-Stele einen Kranz nieder und ging zu einem „Meet Together“ des Springer Verlages. Außerdem nahm er an einer Gedenkveranstaltung des Landes Brandenburg teil, wo er unter anderem den Namen des DDR-Grenzsoldaten Peter Göring als „Maueropfer“ vorlas, und sprach auf einem Gartenfest ein Grußwort. Die 3,7 Millionen Berliner hat er auf diese Weise sicher nicht erreicht.
Auch das Programm der Gedenkstätte Berliner Mauer wirkte eher dürftig. Es bestand nur aus einer Handvoll unbedeutender, manchmal sogar fragwürdiger Veranstaltungen. Für den 14. August wurden die Berliner zum Beispiel aufgerufen, entlang des ehemaligen Grenzstreifens zu picknicken und sich mit „dem netten Späti-Verkäufer“ oder „der DHL-Botin“ über Erinnerungen zur Mauer und zu Grenzen weltweit auszutauschen. Am Wochenende gab es auf dem ehemaligen Todesstreifen eine Tanzvorführung. Die Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, in dem früher vor allem Flüchtlinge und Fluchthelfer inhaftiert waren, bot am 13. August überhaupt keine Veranstaltung an.
Bei der Lektüre des Programms fällt noch ein anderer Punkt ins Auge. Das Wort Kommunismus oder Sozialismus fällt kein einziges Mal. Nicht einmal die DDR findet Erwähnung. Stattdessen wird die Mauer zu einer diffusen Chiffre für Grenzen im Allgemeinen, vielleicht auch für Unrecht, das jedoch keine spezifischen Ursachen hat. Der Trivialisierung des Todesstreifens sind dadurch kaum Grenzen gesetzt.
Auch Berliner Politiker wirken an der Banalisierung des DDR-Grenzregimes mit. Vor allem Vertreter des linken Lagers vergleichen die Mauer regelmäßig mit allen möglichen anderen Mauern und Zäunen auf dieser Welt. Ihr Zweck, die eigene Bevölkerung einzusperren, wird dadurch kaschiert. Manche nehmen sie auch zum Anlass, um gegen einen „neuen Nationalismus“ zu wettern – obwohl der Mauerbau mit Nationalismus nun wirklich nichts zu tun hatte.
So forderte Michael Müller 2017 den damaligen US-Präsidenten Donald Trump auf: „Dear Mr. President, don’t build this wall!“. Unter Berufung auf die Erfahrungen der Berliner kritisierte er die Mauer, die Trump gegen illegale Einwanderer aus Mexiko errichten wollte. Beim letzten Jahrestag des Mauerbaus erklärte Müller dann: „Das hohe Gut der Freiheit, schwer erkämpft, muss heute wieder gegen neuen Nationalismus in unserem Land und in ganz Europa verteidigt werden.“ In diesem Jahr warnte er in einem Zeitungsbeitrag vor „neuen Mauern in den Köpfen“ – als ob die Mauer eine Art Meinungsunterschied gewesen wäre.
Auch die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Antje Kapek und Silke Gebel, behaupteten beim letzten Jahrestag des Mauerbaus, „dass in immer mehr Ländern – nicht nur in den USA, Polen oder Ungarn – neue Mauern gebaut“ würden. Nicht alle davon seien sichtbar, „aber ein neuer Nationalismus setzt auf Ausgrenzung und führt in seiner extremsten Form zu Terror und Gewalt.“ Auf Twitter riefen die Berliner Grünen sowohl 2019 als auch 2020 dazu auf, „gegen Mauern an den Grenzen und in den Köpfen zu kämpfen.“ Die grüne Bürgermeisterin des Bezirks Kreuzberg-Friedrichshain, Monika Herrmann, machte in diesem Jahr sogar die Nationalsozialisten für die tödliche DDR-Grenze verantwortlich: „60 Jahre Mauerbau – die Folge eines faschistischen, kriegerischen und mörderischen Deutschlands.“
Legenden und Verharmlosungen
Angesichts solcher Verdrehungen und Allgemeinplätze wundert es nicht, dass in Berlin inzwischen auch Legenden und Verharmlosungen über die Mauer gedeihen. Während diese früher nur von ehemaligen DDR- Funktionären gepflegt wurden, findet man sie inzwischen an ganz unerwarteten Orten.
So lobte Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik kürzlich bei einer Ausstellungseröffnung in ihrem Präsidium das „Engagement“ des Ost-Berliner Gerichtsmediziner Otto Prokop und skizzierte dessen „faszinierenden Lebensweg“. Dass Prokop freiwillig in die DDR übergesiedelt war, eine Loyalitätserklärung zum Mauerbau unterzeichnet und eng mit der Stasi zusammengearbeitet hatte, weil er für sie die Toten an der Mauer und in den DDR-Gefängnissen obduzierte, wurde in der Meldung mit keinem Wort erwähnt. Als sich Innensenator Andreas Geisel, bis 1989 Mitglied der SED, dazu äußern sollte, verwies der nur auf die Charité, die die Ausstellung gemacht hätte.
Ein anderes Beispiel liefert aktuell ein Geschichtslehrer aus Berlin-Lichtenberg. Unter der Überschrift „Viele DDR-Bürger fanden die Mauer notwendig“ erklärte der Mann, der ein Buch über die Reaktionen der Ostdeutschen auf den Mauerbau geschrieben hat, in einem Zeitungs-Interview: „Vor allem aber war die Mehrheit der Menschen in der DDR gar nicht gegen die Mauer. Viele Bürger, das haben meine Recherchen gezeigt, haben den Mauerbau akzeptiert, einige sogar begrüßt.“
In Wirklichkeit kam es beim Mauerbau – trotz eines riesigen Aufgebotes an Sicherheitskräften – zu zahlreichen Protesten und einer regelrechten Massenflucht. Bereits am Morgen des 13. August protestierten am Übergang Wollankstraße etwa 500 bis 600 DDR-Bürger. Auch an anderen Bahnhöfen und Straßen gab es mehrfach Zusammenrottungen, die die Volkspolizei teilweise nur durch Einsatz von Tränengas auflösen konnte. Am 15. August demonstrierten am Arkonaplatz erneut 1000 bis 2000 Menschen. Allein in den ersten beiden Tagen flohen fast 7000 Menschen über die bereits verbarrikadierte Sektorengrenze.
Dass sich an dieser Art Geschichtsvergessenheit in absehbarer Zeit etwas ändert, ist wenig wahrscheinlich. Zu sehr dominieren radikale Stichwortgeber und ihre medialen Verstärker den öffentlichen Diskurs in Berlin. Wahrscheinlicher ist, dass sich das selektive Geschichtsbild weiter ausbreiten wird – ein Bild, in dem die Umbenennung der Mohrenstraße als weitaus wichtiger erscheint, als dem verbluteten Maueropfer Peter Fechter einen kleinen Teil der Zimmerstraße zu widmen. Am Ende, so ist zu befürchten, bleibt von der Mauer in Berlin nicht mehr als eine vage Erinnerung.
Der Text erschien zuerst in: Berliner Morgenpost vom 13. August 2021 (aktualisiert am 20.08.2021).
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