Die Erinnerung an das Unrechtsregime in der DDR spielt in Deutschland kaum noch eine Rolle. Das zeigt sich auch am 60. Jahrestag des Mauerbaus. Politik und Gesellschaft wollen die Deutschen lieber als Täter denn als Opfer der Geschichte sehen.
Von Hubertus Knabe
Wenn Willy Brandt noch leben würde, würde ihm heute wahrscheinlich vorgeworfen, den Nationalsozialismus zu relativieren. Als der SPD-Politiker am Abend des 13. August 1961 im Berliner Abgeordnetenhaus die Maßnahmen der DDR zum Mauerbau verurteilte, erklärte er: „Sie bedeuten, dass mitten durch Berlin nicht nur eine Art Staatsgrenze, sondern die Sperrwand eines Konzentrationslagers gezogen wird.“ Und weiter: „Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers.“
Worte wie diese sind selten geworden, wenn es um die sozialistische Diktatur in der DDR geht. Für Politiker aller Couleur ist das 40 Jahre währende SED-Regime kaum noch ein Thema. Auch an Schulen und Hochschulen, in Kultur und Medien spielt es nur selten eine Rolle. Das kollektive Vergessen zeigt sich auch in diesen Tagen, wenn Deutschland auf den Mauerbau vor 60 Jahren zurückblickt.
Während der Bundestag 2011 noch mit Handzetteln dazu aufrief, sich an einer Schweigeminute für die Opfer der innerdeutschen Grenze zu beteiligen, erklärt dessen Pressestelle in diesem Jahr: „Ich kann Ihnen dazu mitteilen, dass der Bundestag aktuell keine Veranstaltungen vorbereitet oder Aktivitäten plant, die im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag des Mauerbaus stehen.“
Auch die Bundesregierung hat wenig mehr zu vermelden. Drei Tage dauert es, bis ein Sprecher von Kulturstaatsministerin Monika Grütters mitteilt, dass die Stiftung Berliner Mauer eine Gedenkveranstaltung durchführt, an der auch der Bundespräsident teilnehmen werde. Zu der Veranstaltung – die dort jedes Jahr stattfindet – sind 120 Gäste geladen.
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Die Antworten sind symptomatisch für den Umgang mit dem schmerzhaftesten Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte. In der Nacht zum 13. August 1961 sperrten ostdeutsche Sicherheitskräfte sämtliche Übergänge zwischen Ost und West, inklusive des U- und S-Bahn-Verkehrs. Seitdem war die DDR 28 Jahre lang ein großes Gefängnis, aus dem man im Normalfall nur herauskam, wenn man sein Leben aufs Spiel setzte. Allein in Berlin kamen an den Grenzbefestigungen mindestens 140 Menschen ums Leben. Über 72 000 Menschen mussten wegen Flucht- und Ausreiseversuchen ins Gefängnis.
Desinteresse der Bundesregierung
Wer meint, dass es derzeit wichtigere Probleme als die Beschäftigung mit dem Mauerbau gibt, dem sei gesagt, dass das Desinteresse an diesem Teil deutscher Geschichte schon länger währt. Bereits den 30. Jahrestag von Mauerfall und Wiedervereinigung hatte die Bundesregierung nur lustlos gefeiert. Erst im April 2019 hatte das Bundesinnenministerium dafür Mittel beantragt. “Das Bedürfnis ist unvorhergesehen,” hieß es damals in dem Antrag. Von den Feiern, die der ehemalige Brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck mit einem Etat von 61 Millionen Euro organisierte, war in Deutschland kaum etwas zu bemerken.
Noch länger zurück liegt die Forderung nach einem Denkmal für die Opfer des Kommunismus. 2015 verpflichtete der Bundestag Kulturstaatsministerin Grütters zwar, „eine in dieser Legislaturperiode anstehende Initiative des Deutschen Bundestages für ein Denkmal zur Mahnung und Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft an einem zentralen Ort in Berlin vorzubereiten und zu begleiten.“ Doch geschehen ist – nichts.
Vier Jahre später forderte der Bundestag die Bundesregierung erneut auf, bis Ende 2019 ein Konzept für ein solches Denkmal vorzulegen; mit einjähriger Verspätung wurde das Papier fertig. Gleichwohl hatten die Abgeordneten bereits im Dezember 2019 beschlossen: „Die Bundesrepublik Deutschland errichtet ein Denkmal für die Opfer von kommunistischer Gewaltherrschaft.“ Doch das Denkmal gibt es bis heute nicht. Der Sprecher von Frau Grütters macht dafür den Bundestag verantwortlich, der bisher keinen Standort festgelegt hätte.
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Auf der Strecke blieb noch ein weiterer Beschluss des Bundestages. 2005 hatte dieser entschieden, auf dem Gelände um das Brandenburger Tor einen „Ort für die Information über und die Erinnerung an die Berliner Mauer, die Auseinandersetzung mit ihren Folgen, des Gedenkens an ihre Opfer und der Freude über die Überwindung der deutschen Teilung zu gestalten.“ Stattdessen wurden in einer Unterführung jedoch nur einige Monitore montiert und die Wände des U-Bahnhofes „Brandenburger Tor“ mit historischen Fotos dekoriert. Auch das vor 14 Jahren beschlossene Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin wartet weiterhin auf seine Eröffnung.
Selektives Geschichtsbewusstsein
Anderen Epochen der Geschichte widmet die Bundesregierung dagegen deutlich mehr Aufmerksamkeit. Für den 75. Jahrestag des Kriegsendes war beispielsweise ein Staatsakt mit 1600 Gästen geplant, der nur wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurde. Im Berliner Dom fand trotzdem ein im Fernsehen übertragener Gottesdienst statt und die Spitzen sämtlicher Verfassungsorgane legten Kränze nieder.
Mit ähnlicher Verve kämpft die Bundesregierung für den Erhalt der sowjetischen Siegesdenkmäler in Berlin. Nachdem diese 2004 bereits einmal für elf Millionen Euro restauriert wurden (einschließlich der vergoldeten Stalin-Zitate), findet derzeit eine neue Sanierung für weitere acht Millionen Euro statt.
Mit Leidenschaft betreibt Deutschland auch die Aufarbeitung des Kolonialismus. Wegen des Völkermords an den Herero und Nama vor über 110 Jahren verpflichtete sich die Bundesregierung erst kürzlich zur Zahlung von 1,1 Milliarden Euro. Einen hohen Stellenwert genießt darüber hinaus die Aufarbeitung von „Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“, für die im Hause Grütters ein eigenes Referat geschaffen wurde. Für viel Geld sollen Deutschlands Museen alle einschlägigen Objekte digitalisieren und deren Herkunft feststellen. Geht es nach den Grünen, bekommt Berlin demnächst auch eine Lern- und Erinnerungsstätte für die Opfer der Kolonialverbrechen.
Über die Gründe dieses selektiven Geschichtsbewusstseins ließe sich viel schreiben. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt die geringe historische Bildung der heutigen Politikergeneration. Schon vor Jahren wusste der damalige Berliner Regierungschef Klaus Wowereit nicht, wann der Zweite Weltkrieg stattfand. Entsprechend blind folgt die Politik einigen Stichwortgebern in den Medien.
Besonders ausgeprägt sind die Wissensdefizite beim Thema Kommunismus. Schon vor dem Mauerfall wurde die DDR in Deutschlands Schulen nur am Rande behandelt – woran sich bis heute nichts geändert hat. Die schütteren Kenntnisse spiegeln sich bei Politikern oft in besonders platten Erklärungen wider. Linke und Grüne zum Beispiel vergleichen das Grenzregime der SED regelmäßig mit diversen anderen Zäunen und Mauern in der Welt.
Die Unwissenheit mischt sich häufig mit einer diffusen Sympathie für die Idee des Sozialismus. Trotz 40 Jahren DDR findet diese in Deutschland weiterhin große Zustimmung. Linke Diktaturen und Extremisten werden deshalb deutlich verständnisvoller betrachtet als rechte. Daran hat auch die Arbeit der inzwischen zahlreichen DDR-Gedenkstätten nichts geändert. Diese findet vielmehr, wie es der Historiker Martin Sabrow einmal ausdrückte, „in einer Parallelwelt“ statt und trägt in starkem Maße selbstreferentielle Züge.
Und noch ein Punkt kommt hinzu: Große Teile der meinungsprägenden Eliten wollen die Deutschen lieber als Täter denn als Opfer ihrer Geschichte sehen. Diese früher einmal respektable Haltung hat sich in den letzten Jahren zunehmend verselbständigt und zu einer pauschalen Abwertung vorangegangener Generationen geführt. Dahinter liegt jedoch nur allzu oft der Versuch, sich selbst moralisch aufzuwerten.
Der Mauerbau passt nicht in dieses simple Schema. Auch deshalb erfährt er nur noch wenig Aufmerksamkeit. Dabei hält er die wichtige Lehre parat, das politische Heilsversprechen in der Regel in Unterdrückung enden. Oder, wie es Willy Brandt 1961 formulierte: „Hier ist die Wirklichkeit und die akute Brutalität eines Systems zu sehen, das den Menschen das Paradies auf Erden versprochen hat und das die Flucht der Menschen aus jenem Paradies erstickt in einem Massenaufgebot von Truppen.“
Der Text erschien zuerst in: Welt am Sonntag vom 8. August 2021
(1) Bundesarchiv, Bild 173-1321 / Helmut J. Wolf / CC-BY-SA 3.0
(2) PantheraLeo1359531 / CC BY-SA 4.0