Die volkseigene Erfahrung

Montagsdemonstration am 29. Januar 1990 in Leipzig: Rund 100.000 Menschen demonstrierten auf dem Karl-Marx-Platz
Freie Wahlen als Tag der Befreiung - Montagsdemonstration am 29. Januar 1990 in Leipzig (1)

Im Landtagswahlkampf in Brandenburg beruft sich die AfD auf die Friedliche Revolution von 1989. Medien und einstige Bürgerrechtler laufen dagegen Sturm. Doch warum wird die DDR im Osten plötzlich wieder zum Thema? Ein Erklärungsversuch.

Von Hubertus Knabe

vgwort

„Vollende die Wende“, so prangt es auf der Startseite der AfD Brandenburg im Internet. Für die Landtagswahl am 1. September ruft die Partei, die Umfragen zufolge derzeit im Osten stärkste politische Kraft ist, zur „Friedlichen Revolution mit dem Stimmzettel“ auf. Auch Spitzenpolitiker der AfD wie Alexander Gauland vergleichen ihre politische Konkurrenz schon mal mit den DDR-Blockparteien, die Bundesregierung mit dem SED-Politbüro und die AfD mit dem Neuen Forum. Wie kommt es, dass die DDR, 30 Jahre nach dem Mauerfall, plötzlich wieder zum Thema wird?

Folgt man der Nachrichtenredaktion der ARD, sind die Vergleiche der AfD „eine Frechheit“ und „ein Schlag ins Gesicht der Mutigen von 1989“ – so der aus Leipzig stammende Korrespondent Gábor Halász in den Tagesthemen. Auch dem „Faktenfinder“ der Tagesschau zufolge handelt es sich um „gezielte geschichtspolitische Verzerrungen“. Überdies stammten die Spitzenkandidaten in Brandenburg und Thüringen aus dem Westen – und könnten deshalb, so die Botschaft, in Sachen DDR gar nicht mitreden. Spiegelonline zeigt sich ähnlich empört über „die Umdeutung der Geschichte“ und beruf sich dabei auf einstige DDR-Bürgerrechtler, die „fassungslos“ darüber seien.

„Geschichtspolitische Verzerrungen“ – Internetauftritt der AfD zu den Landtagswahlen in Brandenburg

Wie so oft beim Umgang mit der AfD scheint vielen Journalisten der Frontalangriff die einzig angemessene Reaktion zu sein. Dabei übersehen sie nicht nur, dass sie der nationalkonservativen  Partei damit mehr nutzen als schaden. Sie ignorieren auch, dass die AfD Stimmungen zum Ausdruck bringt, die offenbar tatsächlich existieren. Wenn im Osten mehr als 20 Prozent der Wahlberechtigten erklären, die AfD wählen zu wollen, muss es dafür Ursachen geben. Aber welche?

Die Antwort auf diese Frage ist häufig kaum verhüllte Verachtung gegenüber „den“ Ostdeutschen oder „den“ Sachsen, die undankbar und grundlos den Pfad der politischen Tugend verlassen hätten. Schon die wehenden Deutschland-Fahnen auf den ostdeutschen Montagsdemonstrationen im Dezember 1989 waren vielen westdeutschen Beobachtern suspekt. Von dort zieht sich für manchen eine durchgehende Linie von den Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 über die PEGIDA-Demonstrationen in Dresden bis hin zu den rechtsradikalen Aufmärschen in Chemnitz im vergangenen Jahr – und jetzt zu den Erfolgen der AfD.

Die weniger Überheblichen reagieren wie bei einem schwer erziehbaren Jugendlichen mit einer Mischung aus Mitleid und Lob. Dem Tagesthemen-Kommentator zufolge hätten die anderen Parteien „den Osten zu oft allein gelassen“. Auch die Bundeskanzlerin erklärte den Unmut der Ostdeutschen damit, dass die Wiedervereinigung für diese „zu harten Umbrüchen“ geführt hätte. Tagesspiegel-Kolumnistin Liane Bednarz forderte deshalb, der AfD-Rhetorik durch eine positive Betrachtung des im Osten Geleisteten Paroli zu bieten. Die Bundesregierung plant ebenfalls, bei den anstehenden Jubiläumsfeiern „das gemeinsame und gegenseitige Verständnis für die Leistungen zu fördern, die zur Wiedervereinigung geführt haben“.

Verachtung gegenüber den Ostdeutschen – PEGIDA-Demonstration 2016 in Dresden

Ob diese Strategie zum Erfolg führt, ist zweifelhaft. Denn der Vergleich der aktuellen Lage mit der in der DDR hat tiefere Ursachen. Es ist die „volkseigene Erfahrung“, wie der Historiker Lutz Niethammer vor Jahren ein Oral history-Buch zur DDR nannte, die viele Ostdeutsche empfindlicher und rebellischer auf bestimmte politische Entwicklungen reagieren lässt. Und das gilt erstaunlicherweise nicht nur für diejenigen, die die DDR bewusst miterlebt haben, sondern auch für einen Teil ihrer Kinder.

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Da ist zum einen die Abgehobenheit der politischen Klasse, die viele Ostdeutsche an früher erinnert. Angela Merkel ist bald genauso lange im Amt wie Erich Honecker, über 11 Millionen Bundesbürger haben nur diese eine Kanzlerin erlebt. In der Praxis, so empfinden es viele, entscheidet nur eine kleine Gruppe von Politikern über die Geschicke der Bundesrepublik – oft genug, ohne sich um die Vorstellungen großer Bevölkerungsteile zu kümmern. Wer die Welt nur aus der Perspektive des postmaterialistischen Milieus in den Großstädten betrachtet, muss sich nicht wundern, wenn sich viele Ostdeutsche auf dem Lande darin nicht wiederfinden.

11 Millionen kennen nur eine Kanzlerin – Angela Merkel (Mi.) im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen 2009

Schon zum 25. Jahrestag der Wiedervereinigung hat der Richter am Bundesverfassungsgericht Peter M. Huber vor einer zunehmenden Selbstreferentialität des politischen Systems in Deutschland gewarnt. Das Wahlrecht, die Ausgestaltung der Politikfinanzierung, das Fehlen direkter Demokratie auf Bundesebene und die Organisationsstrukturen der politischen Parteien verstärkten die Sprachlosigkeit zwischen Bürgern und Politik. „Auch die inhaltliche Annäherung der großen Parteien nimmt dem Wähler die Möglichkeit zur Einflussnahme. Wo es keine Alternativen gibt, gibt es auch keine Wahl.“ Das kennen viele Ostdeutsche aus der Vergangenheit.

Verstärkt wird die Entfremdung zwischen Volk und Regierung durch das Agieren der Medien, vor allem der öffentlich-rechtlichen. In seinem Buch „Zur Sache Deutschland“ ist der Journalist Jochen Bittner unlängst mit seinen Kollegen ins Gericht gegangen. Am Beispiel des Redaktionsleiters der WDR-Sendung Monitor, Georg Restle, beschreibt er „das zunehmende Bedürfnis vieler Journalisten, der Öffentlichkeit zu beweisen, wo sie politisch stehen“. Dem hält er entgegen, dass die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Berichterstattung die Presse auch dazu verpflichte, „die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammenzufassen“. Im Klartext: Neue Parteien müssen in gleicher Weise Gehör finden wie alte.

Zeigen, wo man steht – Monitor-Redaktionsleiter Georg Restle bei der ColognePride 2018

Der Haltungsjournalismus stößt im Osten Deutschlands auf besonders empfindliche Ohren. Zu gut ist den Älteren noch die „Rotlichtbestrahlung“ der DDR-Medien in Erinnerung. Überschriften wie „Flüchtlinge könnten Wirtschaftswunder bringen“ erinnern manchen an die Schlagzeilen über Produktionserfolge im SED-Zentralorgan Neues Deutschland. Das ständige Bemühen, den Ostdeutschen zu sagen, was sie zu denken oder zu wählen haben, führt wie einst in der DDR zur Flucht vor der Berieselung, nur dass heute die sozialen Medien die Rolle des Westfernsehens übernommen haben. Selbst wenn sämtliche Journalisten Bittners Appell folgen würden, die „Fahnen runter“ zu nehmen, dürfte es lange dauern, das verloren gegangene Vertrauen in ihr Bemühen um Objektivität wieder aufzubauen.

Politik und Medien tragen auch die Hauptverantwortung dafür, dass in Deutschland immer mehr Menschen Angst haben, offen ihre Meinung zu sagen. Laut einer Allensbach-Umfrage hatten 45 Prozent der Befragten im November 2015 den Eindruck, man müsse vorsichtig sein, sich zur Flüchtlingsfrage zu äußern. Im Mai 2019 hatten bereits zwei Drittel der Befragten das Gefühl, man müsse im öffentlichen Raum „sehr aufpassen“, was man sagt. Neben der Flüchtlingsfrage und dem Islam wurden jetzt auch die Themen Nationalsozialismus, Juden, Rechtsextremismus, Patriotismus, Homosexualität und die AfD als angstbesetzt benannt. Die Aggressivität und Intoleranz im politischen Diskurs erinnert manchen an DDR-Verhältnisse, nur dass der Druck jetzt nicht nur von oben kommt, sondern auch von der Seite durch Journalisten und von ihnen gehypte Minderheiten.

Aufpassen, was man sagt – Wahlplakat der AfD in Brandenburg

Die Umfrage brachte auch zum Vorschein, dass die Bevölkerung inzwischen deutlich zwischen Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum und im privaten Kreis trennt – ein Phänomen, das viele Ostdeutsche ebenfalls nur allzu gut aus der DDR kennen. Auch dort sahen sich die meisten genötigt, an der Schule, in der Universität oder im Betrieb anders zu reden als zu Hause. Vor besonderen Schwierigkeiten standen dabei diejenigen, die Kinder hatten. Wenn der Lehrer in der Schule scheinbar harmlos fragte, ob die Uhr im Fernsehen Punkte oder Striche hatte, konnte er damit feststellen, ob die Familie Westfernsehen schaute. Im schlimmsten Fall landete die Antwort beim Staatssicherheitsdienst.

Von der Angst, am Mittagstisch offen mit seinen Kindern zu reden, weil „sich die Kleinen in der Schule verplappern könnten,“ sprach auch der thüringische Spitzenkandidat Björn Höcke beim Wahlkampfauftakt der AfD in Cottbus. Manch einer mag dabei an die Broschüre „Ene, mene, muh – und raus bist du“ gedacht haben, die vergangenes Jahr von der Amadeu Antonio Stiftung herausgegeben wurde. Darin wird unter anderem beschrieben, woran Kita-Mitarbeiter „Kinder aus völkischen Elternhäusern“ erkennen könnten. Die Broschüre war mit Mitteln des Bundesfamilienministeriums erstellt und von der Ministerin Franziska Giffey mit einem Grußwort versehen worden. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Nadine Schön, sprach von einer „staatlichen Handlungsanweisung zur Elternspionage“ und forderte, das Heft wieder einzustampfen. Statt dessen verklagte die Stiftung den CDU-Stadtrat des Berliner Bezirks Neukölln Falko Liecke, weil er öffentlich davon abgeraten hatte, die Broschüre in Kitas zu verwenden.

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Angst vor den Konsequenzen hielt die überwiegende Mehrheit der DDR-Bewohner auch jahrzehntelang davon ab, sich gegen die SED-Diktatur aufzulehnen. Die wenigen Unerschrockenen – nach Stasi-Analysen Anfang 1989 etwa 2500 Menschen – wurden zumeist überwacht, schikaniert, verhaftet oder aus dem Lande gegrault. Die Staatsmedien verunglimpften sie als „Konterrevolutionäre“, „Agenten“ oder „feindlich-negative Elemente“ – wenn sie überhaupt darin Erwähnung fanden.

Der rabiate Umgang mit der AfD erinnert viele Ostdeutsche deshalb an alte Zeiten. Wenn der Bundestag der größten Oppositionspartei beharrlich einen Posten als Vizepräsident verweigert, bestärkt er selbst den Eindruck, er sei bereits „gleichgeschaltet“ wie die DDR-Volkskammer. Auch die Entscheidung des Verfassungsschutzes, die AfD stärker zu überwachen, aktiviert im Osten sofort die Erinnerung an die Stasi. Die Behinderung ihrer Veranstaltungen durch Gegendemonstranten, die Nicht-Zulassung von Kandidaten in Sachsen, die Forderung prominenter Politiker, die AfD zu verbieten oder einzelnen Personen ihre Grundrechte zu entziehen – all dies gerät im Osten automatisch in den Kontext der DDR-Vergangenheit. Dass Anhängern der AfD – wie auf Plakaten in Berlin – sogar die Benutzung der U-Bahn untersagt werden soll, übertrifft dabei selbst die Realität im SED-Staat.

Kein Zutritt für AfD-Anhänger – Plakat in einer Berliner Bushaltestelle, laut BVG eine Fälschung

Wie das Beispiel der PDS in den 1990-er Jahren gezeigt hat, wird die AfD durch solche Maßnahmen allerdings nicht schwächer, sondern stärker. Viele Ostdeutsche fühlen sich dadurch erst Recht motiviert, nunmehr den Widerstand zu leisten, zu dem ihnen in der DDR der Mut fehlte. Schon dieser Tatsache ist zu entnehmen, dass die heutige Bundesrepublik keine DDR 2.0 ist – wie in den sozialen Medien gerne behauptet wird. Aber es gibt Entwicklungen, die den fundamentalen Unterschied zwischen Damals und Heute verkleinern und die deshalb jeden Demokraten aufhorchen lassen sollten. Den wahrscheinlichen Wahlsieg der AfD bei den Landtagswahlen im Osten kann man deshalb auch als Weckruf begreifen: Dass Politik und Medien aus ihren Fehlern lernen und sich, wie nach dem Sturz der SED-Herrschaft, der Sorgen der Menschen wieder annehmen.

Der Text erschien, leicht gekürzt, zuerst in: Neue Züricher Zeitung vom 16. August 2019

(1) Bundesarchiv, Bild 183-1990-0129-029 / Kluge, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0

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