Jahrzehntelang verhinderte Ungarn, dass DDR-Bürger in den Westen fliehen konnten. Vor 35 Jahren war plötzlich Schluss damit – mit einschneidenden Folgen. Eine Spurensuche in den Archiven der Geheimdienste.
Von Dr. Hubertus Knabe
Den Genossen aus der DDR schenkte Oberst József Varga schon im März 1989 reinen Wein ein. In seinem Land, so der Chef der internationalen Abteilung des ungarischen Staatssicherheitsdienstes, habe eine Entwicklung eingesetzt, die „letztlich dazu führen wird, dass die Grundlagen des sozialistischen Staates Schritt für Schritt beseitigt werden.“ Bewährte Tschekisten würden in den Ruhestand versetzt, wodurch ihr Einfluss auf die Arbeit des Dienstes eliminiert werde. „Die Genossen der Sicherheitsorgane sehen derzeit keine Möglichkeit, eine Umkehr dieses Prozesses zu erreichen.“
Der Bericht über das freimütige Gespräch, den die Stasi der Nachwelt hinterlassen hat, wirft ein Schlaglicht auf die Situation des sozialistischen Lagers acht Monate vor dem Fall der Berliner Mauer. Seit Ende 1988 zeichneten sich in Ungarn gravierende politische Änderungen ab, während das SED-Politbüro von Reformen nichts wissen wollte. Die Riege um Parteichef Erich Honecker meinte, nur das Festhalten an Altbewährtem garantiere Stabilität. Doch gerade das machte sie blind für die Gefahren, die sich im Sommer 1989 über der DDR zusammenbrauten.
35 Jahre ist es her, dass Ungarn zum Motor der Weltgeschichte wurde. Im November 1988 war der Reformkommunist Miklós Németh Ministerpräsident geworden, drei Monate später beschloss das Politbüro der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, die Sperranlagen zu Österreich abzubauen. Anfang Mai gab Ungarn die Entscheidung öffentlich bekannt und Ende Juni durchschnitten Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock vor laufenden Kameras den Grenzzaun. Das so entstandene Loch im Eisernen Vorhang entfaltete einen Sog, als hätte man in einer vollen Badewanne den Stöpsel gezogen.
Denn Tausende DDR-Bürger nahmen die Nachricht zum Anlass, nach Ungarn zu fahren. Sie inspizierten die österreichische Grenze oder begaben sich in die Deutsche Botschaft, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu verlangen. Ihre Zahl nahm so rasant zu, dass Flüchtlingslager eingerichtet werden mussten. Als Ungarn dann am 19. August 1989 ein symbolisches Picknick auf dem Grenzstreifen zuließ, kam es zur ersten Massenflucht. Fünf Tage später gestattete die Budapester Regierung in einer „einmaligen humanitären Aktion“ über 100 DDR-Bürgern die Ausreise. Am 11. September öffnete sie schließlich für alle Ostdeutschen die Grenzen.
Die damalige Abstimmung mit den Füßen, von westdeutschen Fernsehsendern in Echtzeit dokumentiert, hatte gravierende Rückwirkungen auf die DDR. Tausende Ostdeutsche erschienen plötzlich nicht mehr zur Arbeit, weil sie in Ungarn auf ihre Ausreise hofften. Die Machthaber verloren rapide an Autorität, da sie dem Exodus nichts entgegenzusetzen wussten. Selbst für SED-Genossen deutete die Massenflucht „auf eine umfassende gesellschaftliche Krise“, wie es in einem Stasi-Bericht vom 8. Oktober hieß. Zehn Tage später wurde Honecker abgelöst – was eine politische Dynamik in Gang setzte, die zum Sturz der sozialistischen Regime in der DDR und im gesamten Ostblock führte.
Ein trügerisches Sicherheitsgefühl
Warum sich die SED-Führung dieser Entwicklung kaum widersetzte, gibt bis heute Rätsel auf. Mit Kampfgruppen, Polizeikräften und einem für den Bürgerkrieg gerüsteten Stasi-Regiment hatte sie sich auf Revolten bestens vorbereitet. In jeder Kreisdienststelle lagen Umschläge bereit, die Anweisungen zur Internierung potentieller Störenfriede im Spannungsfall enthielten. Will man die Ursachen der eigentümlichen Passivität ergründen, empfiehlt sich ein Blick in die Aufzeichnungen der Geheimdienste Ungarns und der DDR, die heute im Bundesarchiv und im Budapester Archiv der Staatssicherheitsdienste lagernden Unterlagen. Sie zeigen: Es war die Mischung aus Agonie und Selbstgefälligkeit, die wesentlich zum Untergang des SED-Regimes beitrug.
Dass der Staatssicherheitsdienst die DDR-Bevölkerung mehr als 30 Jahre lang erfolgreich in Schach gehalten hatte, erzeugte an dessen Spitze ein trügerisches Sicherheitsgefühl. Noch Ende August, als bereits die Fernsehbilder von den Grenzdurchbrüchen und Flüchtlingslagern durch ostdeutsche Wohnzimmer flimmerten, versicherten die Leiter der Stasi-Bezirksverwaltungen dem Minister für Staatssicherheit bei einer Beratung, die Lage sei „stabil“ und man habe „alles im Griff“. Als der Geraer Stasi-Chef Dieter Dangrieß irgendwann auf die „Ungarnprobleme“ und „die hohe Anzahl der Verbleiber“ zu sprechen kam und anmerkte, dass dies „doch viele auch progressive Kräfte nachdenklich“ stimme, unterbrach ihn Erich Mielke und fragte: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Die Antwort des Obersts: „Der ist morgen nicht, Genosse Minister, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“
Tatsächlich hatte sich die Stasi auch in Ungarn auf alle Eventualitäten vorbereitet. Mit dem dortigen „Bruderorgan“ – die III. Hauptverwaltung des Innenministeriums – verband sie eine jahrzehntelange Partnerschaft auf nahezu allen Gebieten: Spionage, Desinformation, Verfolgung von Oppositionellen, Unterwanderung der Kirchen, Entwicklung neuer Überwachungstechnik und nicht zuletzt die Bewachung der ungarischen Grenzen. Die jeweils zuständigen Abteilungen tauschten Tausende ins Russische übersetzte Papiere aus und trafen sich in regelmäßig zu gemeinsamen Beratungen. Sogar ein eigenes Verrechnungssystem und einen Urlauberaustausch hatten die beiden Geheimdienste vereinbart.
Es mag diese geschäftige Routine gewesen sein, die den Stasi-Generälen den Blick auf die heraufziehende Krise verstellte. Wie die Unterlagen zeigen, bewegten sie sich in einer geschlossenen, hochideologisierten Welt, deren zentrales Axiom lautete, dass für alle Probleme des Sozialismus die aggressiven Bestrebungen des Westens verantwortlich wären. In Wirklichkeit hatte sich die SED jedoch zum großen Teil selbst in die prekäre Lage des Jahres 1989 hineinmanövriert.
Dies gilt zuallererst für die Entscheidung der DDR-Führung, nach dem Mauerbau ihren eingeschlossenen Bürgern die Möglichkeit einzuräumen, in einigen befreundeten Staaten Urlaub zu machen, darunter auch in Ungarn. Reisten sie anfangs noch in organisierten und deshalb leicht zu kontrollierenden Gruppen, machten sich nach der Abschaffung der Visapflicht im Jahr 1969 vor allem Individualurlauber auf den Weg. Die Zahl der DDR-Bürger, die nach Ungarn fuhren oder es auf dem Weg nach Rumänien und Bulgarien passierten, stieg dadurch von 41.000 (1961) auf 1,3 Millionen (1989).
Für viele Ostdeutsche stellte Ungarn damals eine Art sozialistisches Italien dar, mit Sonne, Wein und einem weniger gestrengen Staat. Was es in der DDR nur im Intershop gab, konnte man hier in den zahlreichen Privatgeschäften frei kaufen. Auch die SED begrüßte den Tourismus als „Ausdruck für die immer enger werdenden brüderlichen Beziehungen der sozialistischen Staatengemeinschaft und ihrer Bürger“ – wie der Budapester Verbindungsmann der Stasi, Holger Baldauf, 1983 in seiner Diplomarbeit feststellte.
Etwas zeitversetzt entdeckten auch Westdeutsche Ungarn als Reiseland. Um die Devisenbringer ins Land zu holen, wertete die kommunistische Regierung 1982 den Forint ab und baute den Individualtourismus aus. Die Zahl der Einreisen aus der Bundesrepublik stieg dadurch von 10.000 (1961) auf 1,4 Millionen (1989). Vor allem am Balaton kam es deshalb zu einer von niemandem geplanten Vereinigung von Deutschen aus Ost und West. Sie trafen sich, oft mehrere Sommer hintereinander, auf Campingplätzen, am Strand oder bei touristischen Ausflügen. Während Bundesbürger ihre DDR-Verwandten zum gemeinsamen Familienurlaub einluden, organisierten Kirchen und Studentenverbände gesamtdeutsche Ferienlager.
Mit der Zahl der ostdeutschen Touristen stieg auch die der Fluchtversuche. Zwar hatten Ungarn und die DDR im Abkommen über die Visafreiheit vereinbart, niemanden ohne Genehmigung seines Heimatstaates über die Grenze zu lassen. Doch in Ostdeutschland waren viele der Meinung, dass die ungarische Grenze zu Österreich und vor allem zum sozialistischen Jugoslawien weniger stark bewacht wäre als die der DDR. Auch Fluchthelfer nutzten den Reiseverkehr, um DDR-Bürger mit gefälschten Pässen, in umgebauten Wohnwagen oder im Kofferraum heimlich in den Westen zu bringen. Die Zahl der Versuche, illegal die Grenze zu überschreiten, erhöhte sich so von 62 (1963) auf 339 (1972).
Die verlängerte Mauer
Um den „Missbrauch des Reiseverkehrs“ zu unterbinden, vereinbarten Mielke und der ungarische Innenminister János Pap bereits 1963 „weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Kontrolltätigkeit der Grenzschutzorgane“. Ende der 1960er Jahre installierte Ungarn dann an der Grenze zu Österreich das sowjetische Signalsystem „SZ 100“, das Alarm auslöste, sobald man einen der mannshoch gespannten Drähte berührte. Sogenannte Grenzhelfer alarmierten allerdings oft schon vorher die Grenzwachen, wenn sich Unbefugte näherten. Über Jahre hinweg beriet die Stasi ihre ungarischen Kollegen, wie sie die Grenzsicherung perfektionieren könnten, so dass die Berliner Mauer gleichsam bis nach Sopron verlängert wurde.
1987 fingen die ungarischen Grenztruppen auf diese Weise rund 80 Prozent der DDR-Flüchtlinge ab. Sie wurden festgenommen, in ein Gefängnis in der Budapester Gyorskocsi utca gebracht und dort dem Staatssicherheitsdienst übergeben. Mitarbeiter der Abteilung XIV flogen sie anschließend mit Interflug-Maschinen nach Ost-Berlin aus, wo sie mit einem Gefangenentransporter in die Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen gebracht wurden. Das Prozedere hatten Mielke und der ungarische Innenminister bereits 1963 vereinbart, wobei die eigentlich zuständige Justiz nur eine Statistenrolle spielte.
Ziel der Stasi war es allerdings, Fluchtversuche schon im Vorfeld zu verhindern, weshalb sie die Ostdeutschen auch in Ungarn überwachte. Seit 1964 schickte sie dazu im Sommer drei hauptamtliche Mitarbeiter nach Budapest, die dort eine sogenannte Operativgruppe bildeten. Das Vorauskommando wuchs später auf sieben Offiziere an, die den größten Teil des Jahres in Ungarn verbrachten. Ihr Büro war als Vertretung des DDR-Reisebüros getarnt und befand sich zunächst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, später bezogen sie das Obergeschoss einer Villa. Da drei der Offiziere am Plattensee stationiert waren, verlieh ihnen der Schriftsteller György Dalos den Namen „Balaton-Brigade“.
Die Operativgruppe verfügte in Ungarn über ein eigenes Netz an Informanten. Sie rekrutierte diese vor allem in den Dependancen des DDR-Reisebüros am Balaton und unter touristischen Saisonkräften aus Ostdeutschland. Auch DDR-Bürger, die schon länger in der Volksrepublik lebten, und einige Westdeutsche dienten als Spitzel. Ungarische Staatsbürger durfte die Stasi dagegen nicht anwerben.
1989 führte die Operativgruppe 23 Inoffizielle Mitarbeiter (IM), zuzüglich 43 sogenannte Kurzzeit-IM. Die Führungsoffiziere trafen sich mit ihnen in konspirativen Wohnungen, die sie eigens zu diesem Zweck anmieteten. Vom „Bruderorgan“ erhielten sie spezielle Ausweise, mit denen sie seine Dienststellen betreten konnten, um beispielsweise Personenüberprüfungen vorzunehmen. Sie verfügten zudem über fünf Pkw und einen eigenen Parkplatz am Budapester Flughafen Ferihegy. Während DDR-Urlauber pro Jahr nur wenige hundert Mark in Forint umtauschen durften, standen der Operativgruppe 1988 „Operativgelder“ in Höhe von 1,6 Millionen Forint zur Verfügung.
Die Stasi schickte aber noch andere Überwacher. So zelteten im Sommer junge hauptamtliche Mitarbeiter am Balaton, um auf Campingplätzen ostdeutsche Urlauber auszuspionieren. Weitere Informanten waren in den DDR-Reisegruppen platziert, besonders als deren Leiter. Auch andere Diensteinheiten – vor allem die Zentrale Koordinierungsgruppe „zur Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR“ – schickten IMs. Selbst Stasi-Offiziere, die in Ungarn Urlaub machen wollten, mussten der Operativgruppe vorab als Zuträger gemeldet werden – „unter Beachtung der zumutbaren Belastungen während des Urlaubsaufenthaltes“, wie es in der erwähnten Diplomarbeit heißt.
Ungarn als Dienstleister der Stasi
Auch bei der Überwachung arbeitete die Stasi eng mit dem „Bruderorgan“ zusammen. Die Ungarn fingen zum Beispiel die Post ab, die DDR-Bürger in den Westen schrieben, und übergaben sie dem Staatssicherheitsdienst – rund 1200 Briefe und Postkarten allein im Jahr 1988. Sie lieferten auch Hinweise auf DDR-Flüchtlinge und Westkontakte ostdeutscher Urlauber. Umgekehrt informierte die Stasi über Fluchtverdachtsfälle und bat um die Überwachung verdächtiger Personen. Als Handicap erwies sich allerdings, dass sich DDR-Bürger in Ungarn nicht anmelden mussten und deshalb oft nicht aufzufinden waren.
Dieses System der Zusammenarbeit geriet in den 1980er Jahren sichtlich an seine Grenzen. Die Unzufriedenheit in der DDR – die Zahl der Ausreiseantragsteller stieg von 21.500 (1980) auf 113.500 (1988) – schlug sich gegen Ende des Jahrzehnts in einem deutlichen Anstieg der Fluchtversuche nieder. Versuchten 1987 413 Ostdeutsche, die Grenze illegal zu überschreiten, waren es 1988 bereits 762. Im ersten Quartal des Jahres 1989 steigerte sich die Zahl weiter auf fast das Dreifache des Vorjahrs. Gleichzeitig sank die „Abfangquote“, so dass 1988 210 DDR-Bürgern die Flucht gelang.
Dass das ungarische Innenministerium als verlängerter Arm der Stasi agieren sollte, sorgte dort für wachsenden Unmut. Seine Vertreter beklagten nicht nur, dass ein Großteil aller Unterstützungsersuchen der sozialistischen Geheimdienste aus der DDR käme, sondern auch, dass die Zusammenarbeit immer asymmetrischer wurde. So richtete die Stasi 1988 263 Anfragen an die Ungarn, während diese in den beiden Jahren 1987 und 1988 lediglich 26 Ersuchen stellten. Noch größer war der Unterschied bei den Auslieferungen: Während Ungarn 1988 397 DDR-Bürger übergab, überstellte die Stasi nur vier ungarische Staatsbürger. Als der ungarische Geheimdienstchef einmal an einem einzigen Tag 26 Stasi-Anfragen in seiner Postmappe fand, platzte ihm einem Vermerk zufolge der Kragen und er forderte, der Staatssicherheitsdienst sollte „seine Probleme zu Hause klären und seine Probleme nicht auf Ungarn schieben.“
Die Stasi zeigte sich merkwürdig taub für diese Klagen. Sie befasste sich weder mit den Ursachen der Fluchtbewegung noch entwickelte sie eine Gegenstrategie. Stattdessen beschwerte sie sich bei den Ungarn über die langen Bearbeitungszeiten ihrer Anfragen. Sie monierte auch, dass festgenommene Frauen mit Kindern nicht in Haft kamen, sondern in Hotels untergebracht wurden, was sie anschließend bezahlen musste. Ein weiterer Streitpunkt war, dass Ungarn es ablehnte, Fluchthelfer aus der Bundesrepublik auszuliefern, auch wenn diese früher in der DDR gelebt hatten.
Die Lage spitzte sich weiter zu, als Ungarn im Januar 1988 den sogenannten Weltpass einführte. Damit konnten seine Bewohner frei ins westliche Ausland fahren, so dass es keinen Grund mehr für das aufwändige Grenzregime gab. Die Absperrungen waren zudem marode geworden, so dass es immer wieder zu Fehlalarmen kam. Der Kommandant der ungarischen Grenztruppen, János Székely, erhielt deshalb bereits 1987 den Auftrag, einen Inspektionsbericht zu erstellen. Er kam darin zu dem Ergebnis, dass die Sperranlagen „sachlich, politisch und auch moralisch veraltet“ seien. Eine Sanierung würde hingegen mindestens 500 Millionen Forint kosten.
Der Abbau der Grenzanlagen
Am 28. Februar 1989 beschloss das ungarische Politbüro deshalb, den Grenzzaun abzubauen. Drei Tage später informierte Ministerpräsident Németh den sowjetischen Staats- und Parteichef Mihail Gorbatschow. Nach einem Probeabriss an der tschechoslowakischen Grenze gab der ungarische Grenzschutz am 2. Mai eine Pressekonferenz, auf der der Abriss öffentlich angekündigt wurde.
Selbst diese Nachricht ließ die Stasi erstaunlich kalt. In einer internen Analyse hieß es, die „Genossen vom Bruderorgan“ hätten versichert, der Abbau werde durch „verstärkte Tiefensicherung“ und „Streifentätigkeit“ kompensiert. Außerdem würden die eingesetzten Kräfte besser ausgebildet und die Zusammenarbeit mit Grenzhelfern und der Grenzbevölkerung verstärkt. Für sich selbst zog die Stasi lediglich den Schluss, verstärkt „Ersthinweise auf beabsichtigtes ungesetzliches Verlassen der DDR“ zu erarbeiten, damit Verdächtigen keine Reisegenehmigung erteilt werde. Um sie „aus den Reiseströmen herauszulösen“, sollte außerdem der „Filtrierungsprozesses an den Grenzen“ verbessert werden.
Besorgt machte die Stasi etwas ganz anderes. Am 17. Mai 1989 vermeldete sie, dass sich in der DDR-Bevölkerung „Gerüchte und Spekulationen über zu erwartende drastische Einschränkungen im Reiseverkehr“ nach Ungarn erheblich verstärkt hätten. Auch „progressive Kräfte“ brächten zum Teil „spontan und emotional“ ihre Ablehnung solcher Maßnahmen zum Ausdruck. Tatsächlich bangten Hunderttausende Ostdeutsche um ihre Sommerferien, weil sie fürchteten, die SED könnte wegen des Lochs im Eisernen Vorhang eine Reisesperre verhängen. Genau davor schreckte das Politbüro jedoch zurück, um nicht auch noch den loyalen Teil der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Am 24. Mai beraumte der DDR-Botschafter in Budapest sogar eine Pressekonferenz an, auf der er die Gerüchte zurückwies.
Die Stasi verschloss aber noch vor einer weiteren Entwicklung die Augen. Am 12. März trat Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Sie verbietet es, Flüchtlinge in ein Land zurückzuschicken, in dem diese von Verfolgung bedroht sind. Erst am 12. Juni, dem Tag des Inkrafttretens, erschien in Budapest eine Stasi-Delegation, um mit dem „Bruderorgan“ über die Folgen zu reden. Das ungarische Innenministerium sicherte zwar zu, dass DDR-Bürger weder als Flüchtlinge anerkannt noch in den Westen gelassen würden. Es erklärte aber auch, dass sie in Zukunft nicht mehr ausgeliefert, sondern nur noch zum Verlassen des Landes aufgefordert würden.
Sprunghafter Anstieg der Fluchtversuche
Dass die Außenminister Ungarns und Österreichs 14 Tage später den Sperrzaun zwischen ihren Ländern durchschnitten, musste in Ostdeutschland wie eine Einladung zum gefahrlosen Grenzübertritt erscheinen. Da DDR-Bürger für eine Ungarn-Reise eine polizeiliche Genehmigung benötigten, kam es allerdings erst im August zu einem sprunghaften Anstieg der Fluchtversuche. Dazu trug bei, dass Ostdeutsche, die an den Grenzen gefasst und zurückgeschickt wurden, den Übertritt häufig noch einmal versuchten – oder sich aus Angst vor Repressalien in die Deutsche Botschaft begaben.
Auf diese Weise füllte sich Ungarn immer mehr mit DDR-Flüchtlingen. Bereits am 14. August musste die Botschaft wegen Überfüllung schließen. Hunderte DDR-Bürger campierten nun vor dem Gebäude, so dass Flüchtlingslager eingerichtet wurden, in denen Anfang September bereits 3500 Ostdeutsche lebten. Vergeblich verhandelte das ungarische Innenministerium mit der Stasi über eine Lösung des Problems.
Am 31. August reiste der ungarische Außenminister Horn deshalb zu seinem ostdeutschen Amtskollegen Oskar Fischer. Sein Land sei nicht länger bereit hinzunehmen, dass in Ungarn rund 10.000 DDR-Bürger auf eine Ausreisemöglichkeit warteten. Die DDR-Regierung solle erklären, dass sie deren Anträge auf Ausreise wohlwollend bearbeiten werde, wenn die Antragsteller nach Hause zurückkehrten – ansonsten werde man die Grenzen am 4. September öffnen. Weil die SED-Führung sich nicht darauf einließ, kündigte Horn schließlich an, dass Ungarn die Ostdeutschen ausreisen lasse – allerdings eine Woche später, um der DDR noch die Chance zu geben, „konstruktive Lösungen“ zu finden.
Dass die SED weiterhin in Agonie verharrte, hatte auch damit zu tun, dass Parteichef Honecker im Krankenhaus lag. Am 18. August war ihm die Gallenblase und ein Teil des Dickdarms entfernt worden, so dass er vom ZK-Sekretär für Wirtschaft, Günter Mittag, vertreten wurde. Auch am Tag nach der spektakulären Grenzöffnung in Ungarn leitete dieser die Politbürositzung und erklärte: „Die erste Frage ist für mich, das Loch zuzumachen, um keine neuen Sachen anlaufen zu lassen.“ Doch wie dies geschehen sollte, darauf hatte er keine Antwort. „Wieso müssen die wackligen Kandidaten fahren?“, fragte er lediglich, um sogleich hinzuzufügen, Restriktionen dürften „allerdings nicht unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Wir würden sie verärgern.“
Die Idee, kritische DDR-Bürger nicht mehr nach Ungarn fahren zu lassen, von Mielke umgehend in einen Maßnahmeplan übersetzt, erwies sich letztlich als Bumerang. Die Ausreiseantragsteller machten ihrer Unzufriedenheit nun zu Hause Luft und gingen gemeinsam mit Oppositionellen auf die Straße. Mit Massendemonstrationen zwangen sie die SED schrittweise zum Rückzug, bis im November die Grenzen der DDR geöffnet wurden. Der lange Umweg über Ungarn war nun nicht mehr nötig.
Bildnachweis
(1) MCC / Norbert Lobenwein (coloriert)
(2) Bundesarchiv, Bild 183-F1215-0029-001 / CC-BY-SA 3.0
(3) Bundesarchiv/BStU MfS HA-III Fo Nr-313 Bild-078_13fd011e57
(4) Fortepan / Urbán Tamás
(5) Fortepan / UVATERV
(6) MCC / Norbert Lobenwein (coloriert)
(7) Fortepan / Lorkó Fanni
(8) Walter Fr. Schleser