Auferstanden aus Ruinen

Renaissance sozialistischer Politikkonzepte - Sichtagitation der SED am Domplatz in Merseburg 1980 (1)

Vor 30 Jahren ertrotzten sich die Ostdeutschen das Recht auf Freizügigkeit. Die Öffnung der Berliner Mauer besiegelte das Ende der über 40jährigen SED-Diktatur. Doch während in Berlin offiziell an den Mauerfall am 9. November 1989 erinnert wird, erleben sozialistische Politikkonzepte in Deutschland eine stille Renaissance. Haben die Deutschen nichts aus ihrer Geschichte gelernt?

Von Hubertus Knabe

Wer hätte sich das damals vorstellen können! Ausgerechnet die Partei, deren Diktatur vor 30 Jahren gestürzt wurde, ist Ende Oktober Woche in Thüringen bei freien Wahlen zur stärksten politischen Kraft geworden. Genau 343.736 Wahlberechtigte haben ihr Kreuz bei der Partei gemacht, die sich seit 1989 viermal umbenannte und heute Die Linke heißt.

Der Wahlausgang in Thüringen wirft grundsätzlichere Fragen auf, als wer dort mit wem regieren soll. Wie konnte es dazu kommen, dass 40 Jahre sozialistischer Diktatur weitgehend aus der Erinnerung verschwunden sind? Und warum wird diese Diktatur kaum noch mit der Partei verbunden, die sie einst so eisern betrieb? Schließlich: Haben die Deutschen aus der Geschichte der DDR ausreichend gelernt, dass sie nicht noch einmal der süßen Utopie des Sozialismus verfallen?

Die süße Utopie des Sozialismus – Wahlplakat der Berliner Linkspartei im Europawahlkampf 2019

Historische Amnesie

Dass das SED-Regime langsam in Vergessenheit gerät, ist zunächst eine normale menschliche Reaktion. Eine ganze Generation ist inzwischen nachgewachsen, die die DDR nicht mehr erlebt hat. Doch während der deutlich länger zurückliegende Nationalsozialismus weithin geächtet ist, wird die Diktatur der SED vielfach neutral oder sogar positiv bewertet – wenn man denn überhaupt noch weiß, was die drei Buchstaben D-D-R bedeuten.

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Verantwortlich für diese Amnesie sind in erster Linie Politik, Medien und politische Bildung. 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es in der Bundespolitik keinen einzigen prominenten Politiker, der sich noch erkennbar mit dem sozialistischen Menschenexperiment in Ostdeutschland auseinandersetzt. Obwohl Deutschland seit 14 Jahren von einer Kanzlerin regiert wird, die das SED-Regime selbst erlebt hat, spielt die Erfahrung des Kommunismus im Politikbetrieb praktisch keine Rolle mehr. Die offiziellen Feiern zum Mauerfall in Berlin werden vermutlich die letzten ihrer Art in Deutschland sein.

Neutral oder positiv bewertet – Im Internet angebotenes Nostalgie-T-Shirt mit DDR-Staatswappen

Auch aus den Medien ist die DDR – sieht man von vereinzelten Jahrestagen wie diesem ab – weitgehend verschwunden. Waren die Verbrechen der SED noch Anfang der 1990er Jahre ein bestimmendes Thema, setzte bald eine allgemeine Katerstimmung über die Folgen der Wiedervereinigung ein. Zur Jahrtausendwende folgte dann eine bizarre Ostalgiewelle, die schließlich in völliges Desinteresse mündete. Heute folgen viele Journalisten einem antikapitalistischen Bauchgefühl, das es so in keinem anderen ehemaligen Ostblockland gibt.

Den jüngeren unter ihnen kann man das nicht einmal zum Vorwurf machen. Die sozialistische Diktatur spielt an Schulen und Universitäten nämlich praktisch keine Rolle. Im Geschichtsunterricht kommt die DDR meist überhaupt nicht vor und an den über 400 Hochschulen gibt es nicht einen einzigen Lehrstuhl für DDR-Geschichte. Die Folge ist, dass diejenigen, die die DDR nicht selbst erlebt haben, nur äußerst rudimentäre Kenntnisse über sie besitzen. Selbst ausgebildete Historiker können einem oft nicht erklären, warum die SED ihr eigenes Volk unterdrückte.

Äußerst rudimentäre Kenntnisse – Schulbuch für das Fach Geschichte aus dem Westermann Verlag (Ausschnitt)

Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass viele annehmen, die Linke hätte mit der DDR nichts zu tun – und man sie deshalb auch getrost wählen könnte. Dabei finden sich in ihren Reihen etliche Funktionsträger, die persönlich in die SED-Diktatur verstrickt waren. Dem neuen Thüringer Landtag gehören zum Beispiel gleich zwei ehemalige hauptamtliche SED-Funktionärinnen an; zwei weitere Abgeordnete arbeiteten für eine FDJ-Kreisleitung, zwei im DDR-Staatsapparat, einer war Berufsoffizier bei den DDR-Grenztruppen und einer wurde als Inoffizieller Mitarbeiter geführt. Und in den letzten fünf Jahren konnte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow nur deshalb regieren, weil er sich auf zwei frühere Spitzel stützte, die vom Landtag mehrfach für parlamentsunwürdig erklärt worden waren.

Renaissance des Sozialismus

Noch besorgniserregender ist, dass Ideologie und Politik der SED in den letzten Jahren eine stille Renaissance erfahren haben. Sozialismus ist für viele nicht die Bezeichnung für ein Unrechtsregime, sondern für eine positive Utopie. Das gilt nicht nur für die Linkspartei, sondern auch für die Jugendorganisationen von SPD und Grünen und zahlreiche andere Politaktivisten. Private Unternehmen werden dagegen zu profitgierigen Monstern stilisiert, obwohl auch der Wohlstand ihrer Kritiker zum großen Teil auf deren Ideen und Fleiß beruht. Immer häufiger wird zudem der im Grundgesetz verankerte Schutz privaten Eigentums in Frage gestellt. Eine kleine Kaste von Politikern und Lobbyisten meint schließlich, sie dürfte und müsste den Bürgern vorschreiben, wie sie zu leben hätten. Die Bundesrepublik ist keine DDR 2.0, aber manches erinnert auf verblüffende Weise an die sozialistische Vergangenheit.

Verblüffende Ähnlichkeiten mit der DDR-Vergangenheit – Werbeplakat für die „Sozialismustage“ in Berlin

Planwirtschaftliche Züge trägt zum Beispiel die deutsche Energiepolitik. Nicht Angebot und Nachfrage bestimmen hier die Preise, sondern in erster Linie der Staat. Er garantiert nicht nur den Erzeugern von Ökostrom überhöhte Abnahmepreise, sondern wälzt die Kosten dafür auf die privaten Haushalte ab. Wie einst in der DDR sorgen die staatlichen Eingriffe für massive Marktverzerrungen, die vor allem eins zur Folge haben: erhöhte Kosten und Innovationsträgheit.

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Die Sorge um die Erderwärmung hat den staatsinterventionistischen Vorstellungen weiteren Auftrieb verliehen. Das unlängst beschlossene Klimaschutzgesetz sieht massive Eingriffe vor – auch und vor allem in den Alltag der Bürger. Viele Klimaaktivisten sind zudem der Überzeugung, dass der Kapitalismus schuld sei am Ausstoß der Treibhausgase, obwohl die DDR zu den größten Klimasündern der Welt zählte und der Einzug der Markwirtschaft zu einem rapiden Rückgang der Emissionen führte. Die Selbstermächtigung radikaler Minderheiten erinnert an das Selbstverständnis der SED, die stets zu wissen meinte, was für das Volk gut sei.

Selbstermächtigung radikaler Minderheiten – Friday for Futures-Demonstration in Duisburg 2019 (2)

Antiquierte Konzepte bestimmen auch die Debatte über steigende Mieten in den Großstädten. Statt Investoren das Bauen leichter zu machen, suchen viele Politiker ihr Heil in Instrumenten, die in der DDR fatale Folgen hatten: Mietpreisregulierungen und Enteignungen. Nach 40 Jahren Sozialismus waren über 1,3 Millionen Altbauwohnungen wegen Unbewohnbarkeit abgerissen worden und über 200 Altstadtkerne verfallen.

Einengung der Meinungsfreiheit

Und noch ein Relikt aus DDR-Zeiten ist wieder auferstanden: der sogenannte Antifaschismus, der immer mehr an die Stelle des anti-totalitären Konsenses in der alten Bundesrepublik tritt. Allein das Bundesfamilienministerium fördert den Kampf gegen echte oder vermeintliche Nazis in diesem Jahr mit 115,5 Millionen Euro, während der linke Extremismus fast völlig ausgeblendet oder, wie von der Linkspartei, sogar unterstützt wird – trotz einer ähnlich hohen Zahl linker und rechter Gewaltdelikte. Diese politische Einäugigkeit hat nicht nur dazu geführt, dass inzwischen alles und jedes als „rechts“ abgestempelt und das Grundrecht auf Meinungsfreiheit dadurch spürbar eingeengt wird. Ehemalige SED-Funktionäre wie Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau oder frühere Stasi-Mitarbeiter wie Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung können sich in diesem Diskurs auch als vorbildliche Demokraten inszenieren.

Selbstinszenierung als vorbildliche Demokratin – Ex-SED-Funktionärin und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (3)

Die Feiern zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution betrachten viele Opfer der SED-Diktatur deshalb mit gemischten Gefühlen. Dass es 1989 gelang, die sozialistische Diktatur zu stürzen, ist für sie immer noch ein Anlass zu großer Freude. Doch die pathetischen Reden, die an diesem Tag zu hören sind, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland aus seiner Vergangenheit wenig gelernt hat.

Aktualisiert an 09.11.2019, 13:52 h

Der Text erschien zuerst in: Welt am Sonntag vom 3. November 2019 sowie auf Weltonline am 5. November 2019

(1) Foto: Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Merseburg, Domplatz — 1980 — 5” / CC BY-SA 4.0
(2) Foto:
DIE LINKE NRW / Irina Neszeri
(3) Foto:
Olaf Kosinsky (kosinsky.eu), Lizenz CC BY-SA 3.0-de via Wikimedia Commons

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