Der parteilose Bukarester Bürgermeister Nicusor Dan hat die Präsidentschaftswahlen in Rumänien gewonnen. Sein Wahlsieg ist eine Absage an die post-kommunistischen Seilschaften, die das Land bis heute bestimmen. Zugleich ist er ein Bekenntnis zu einem demokratischen Europa. Erstmals erscheint eine entschlossenere Aufarbeitung der Vergangenheit möglich.
Von Hubertus Knabe
„Ziehen Sie sich warm an,“ hatte die Mitarbeiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bukarest vorsorglich geschrieben, die den Besuch im rumänischen Geheimdienstarchiv arrangiert hatte. Und tatsächlich: Wenn man nach langer Fahrt durch trostlose Vororte das ehemalige Militärgelände am Rande von Bukarest erreicht hat, steht man in einer riesigen Halle, in der kaum mehr als zehn Grad herrschen. Hier, wo früher Armeefahrzeuge standen, liegt heute das, was von der kommunistischen Geheimpolizei Rumäniens übrig geblieben ist: 2,3 Millionen überwiegend handgeschriebene Akten, teils in Bündeln verschnürt, teils in Boxen verpackt – ein gigantisches Archiv staatlicher Überwachung.
Die frostige Atmosphäre passt zur Stimmung in Rumänien, das seit 2004 zur NATO und seit 2007 zur EU gehört. Eine funktionsfähige, transparente Demokratie hat das Land bis heute nicht entwickelt. Wer etwas werden will, braucht Verbindungen und Protektion. Daran hat auch der einstige Hoffnungsträger Klaus Johannis nichts geändert, der vor seiner Wahl zum Präsidenten versprochen hatte, mit Korruption und Vetternwirtschaft aufzuräumen. Nach einer fragwürdigen Wahlannulation im Dezember vergangenen Jahres wurde jetzt der parteilose Bukarester Bürgermeister Nicusor Dan mit 53,60 Prozent zu seinem Nachfolger gewählt. Sein prorussischer Gegenkandidat George Simion, der in die Fußstapfen des von der Wahl ausgeschlossenen Rechtsextremisten Calin Georgescu getreten war, erlitt mit 46,40 Prozent eine klare Niederlage
Die Staatskrise in Rumänien ist damit fürs erste beendet. Derzeit hat das Land nur einen Interims-Präsidenten und einen Interims-Regierungschef. Die Regierungsparteien, die monatelang versucht hatten, einem ihnen genehmen Präsidenten zum Erfolg zu verhelfen, wurden abgestraft. Die große Unzufriedenheit im Lande führte dazu, dass deren Kandidaten bei allen Wahlgängen durchfielen. Doch während es zunächst so schien, dass davon vor allem die nationalistischen, europafeindlichen Kräfte profitieren, hat sich das Blatt am Sonntag gewendet. Ausschlaggebend dafür war der Anstieg der Wahlbeteiligung in den Städten, die überwiegend für den unabhängigen, aber europafreundlichen Nicusor Dan stimmten. Auch die ungarische Minderheit votierte fast geschlossen für ihn.

Post-kommunistische Netzwerke
Die Absage an die Regierungsparteien, die sich auch bei den Parlamentswahlen im Dezember vergangenen Jahres zeigte, hat viel mit der kommunistische Vergangenheit zu tun. Denn Rumänien ist das einzige Land im ehemaligen Ostblock, in dem die sozialistische Nomenklatura nie wirksam entmachtet wurde. Die Netzwerke aus der Ära von Diktator Nikolae Ceaușescu blieben mehr oder weniger erhalten, wobei die politische Macht vielfach in wirtschaftliche transformiert wurde.
Möglich wurde diese Entwicklung dadurch, dass die kommunistische Elite auch nach dem Sturz des „Conducătors“, wie sich Ceaușescu nennen ließ, die Zügel in der Hand behielt. Als es im Dezember 1989 in Timișoara, Bukarest und weiteren rumänischen Städten zu Massenprotesten kam, gründete der ehemalige Spitzenfunktionär Ion Iliescu kurzerhand eine neue Partei, die bald darauf die Macht übernahm. Ungeachtet aller späteren Umbenennungen, Spaltungen und Fusionen blieb sie ein machtvolles Sammelbecken der Funktionäre, die den Übergang zur Demokratie in ihrem Sinne gestalteten. „Die zweite Ebene der kommunistischen Führung,“ so brachte es die Politikwissenschaftlerin Lavinia Stan auf den Punkt, „ersetzte die erste Ebene“.
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Ceaușescu Sturz kamen drei Präsidenten und sieben Ministerpräsidenten aus dem kommunistischen Funktionärsapparat. Bis vor wenigen Tagen stellte Iliescus Partei, die sich fälschlicherweise sozialdemokratisch nennt, mit Marcel Ciolacu den Regierungschef. Ciolacu wollte eigentlich auch Staatspräsident werden, doch verpasste er bereits bei den Wahlen im November den Einzug in die Stichwahlen. Bei den Parlamentswahlen im Dezember wurden er und seine Partei erneut abgestraft.

Unter Iliescu, der zweimal das Präsidentenamt bekleidete, konnte sich auch die rumänische Geheimpolizei unbehelligt in die neue Zeit retten. Die allmächtige „Securitate“, die mit schätzungsweise 40 000 offiziellen und über 400 000 inoffiziellen Mitarbeitern das Land wie ein Krebsgeschwür durchzog, wurde lediglich aufgeteilt. Der übergelaufene Generalleutnant Ion Mihai Pacepa dokumentierte 1993 in einem Buch die große personelle Kontinuität. NATO-Generalsekretär Manfred Wörner weigerte sich 1992 sogar, Rumänien zu besuchen, weil ein früherer Top-Agent den Spionagedienst leitete. Bis 2018 war ein von der Securitate ausgebildeter Offizier Vizechef des Auslandsnachrichtendienstes, der auch bei den Präsidentschaftswahlen im November vergangenen Jahres kandidierte.
Diejenigen, die den Einfluss der alten Kader zurückdrängen wollten, kämpften dagegen meist auf verlorenem Posten. Im März 1990 verlangten Oppositionelle in einer „Proklamation von Timișoara“, dass Parteifunktionäre und Offiziere der Geheimpolizei drei Legislaturperioden lang keine politischen Funktionen übernehmen dürften. Doch zwei Monate später wurde Iliescu von 85 Prozent der Wähler zum Staatspräsidenten gewählt. Proteste auf dem Bukarester Universitätsplatz ließ er danach durch Sicherheitskräfte und herbeigerufene Bergarbeiter niederknüppeln.
Der Kampf um die Akten
Erst 1999 verabschiedete Rumänien ein Gesetz, das die Akten der Securitate öffnen sollte – als letzter Beitrittskandidat der EU. Doch da es die Nachfolgedienste nicht verpflichtete, ihre alten Unterlagen dem neuen „Nationalen Rat für das Studium des Securitate-Archives“ (CNSAS) zu übergeben, stand dieser mit leeren Händen da.

Auf Anweisung von Staatspräsident Traian Băsescu musste der Inlandsgeheimdienst dann 2005 rund 1,6 Millionen Securitate-Akten aushändigen. Auf Lastwagen brachte man sie ungeordnet und ohne Register, so dass die Papiere in mühevoller Arbeit neu erfasst werden mussten. Erst vor zweieinhalb Jahren übergab der Dienst auch die Verzeichnisse des ehemaligen Zentrums für Information und Dokumentation. Die Akten des Auslandsnachrichtendienstes bekam der Rat dagegen bis heute nicht, während die Dossiers von Informanten, die der Partei beigetreten waren und später Karriere machten, bereits von der Securitate vernichtet worden waren.
Laut Gesetz hat jeder Bürger das Recht, die über ihn geführte Akte zu sehen. Doch nicht jeder wird darin fündig. Über die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller hinterließ die Securitate zwar einen 914 Seiten umfassenden Vorgang „Cristina“. Doch dass ihre Wohnung in Temeswar abgehört wurde, erfuhr sie erst aus der Akte ihres damaligen Mannes. Kein Wort stand in dem Dossier zudem über den Dichter Roland Kirsch, der sie regelmäßig besuchte und später erhängt im Badezimmer seiner Wohnung aufgefunden wurde. Obwohl die Securitate in Deutschland eine Rufmordkampagne gegen sie organisierte, gibt es im CNSAS-Archiv auch keine Akte der Spionageabteilung über die Literaturnobelpreisträgerin.
Durch das Gesetz sollten eigentlich auch die geheimen Netzwerke in Politik und Wirtschaft freigelegt werden. Jeder Bürger hat deshalb Anspruch darauf zu erfahren, ob Politiker, Kandidaten bei Wahlen, Richter, Staatsanwälte und höhere Verwaltungsbeamte früher für die Securitate arbeiteten. Diese müssen ihrerseits erklären, dass sie nicht in die Aktivitäten der Geheimpolizei involviert waren.

Die Regelung erwies sich indes als wenig wirksam. Denn erst 2006 bekam der Rat den Auftrag, die Selbstauskünfte anhand der Akten zu überprüfen. Weil ein Ex-Informant dagegen klagte, erklärte das rumänische Verfassungsgericht das Verfahren bald für verfassungswidrig. Seit 2008 darf deshalb nur noch das Bukarester Berufungsgericht entscheiden, ob jemand Mitarbeiter oder Informant der Securitate war. Den Agenten muss dabei nachgewiesen werden, dass sie die Grundrechte anderer Personen verletzt und antikommunistische Haltungen angeprangert haben.
Immerhin liegt mittlerweile zu mehr als 2700 Personen ein derartiges Urteil vor. Doch Konsequenzen hatte dies in der Regel nicht. Der prominenteste Fall war der von Präsident Băsescu selbst, dessen Spitzeltätigkeit das Berufungsgericht erst 2022 bestätigte, als er bereits acht Jahre lang nicht mehr im Amt war. Obwohl er unter dem Decknamen „Petrov“ handschriftliche Berichte verfasst hatte, hatte er in vier eidesstattlichen Erklärungen stets das Gegenteil versichert.
Ans Tageslicht gebracht hatte den Fall Germina Nagâț, die früher die Ermittlungsabteilung leitete und heute Mitglied des Rates ist. Im Gespräch bezweifelt die 57jährige, dass die politische Klasse in Rumänien jemals den Wunsch hatte, die Verstrickungen wirklich aufzuklären. „Wir erinnern uns nur dann an die Securitate, wenn wir gegen unsere aktuellen politischen Gegner kämpfen müssen,“ bilanziert sie den Aufarbeitungsprozess.

Anfangs sei der Rat in einem Donut-Laden untergebracht worden, während die Akten jahrelang in einer Privatgarage gelagert hätten. Heute würden die 197 Mitarbeiter mindestens 30 Prozent weniger Gehalt bekommen als andere Staatsangestellte. Der dadurch verursachte Personalmangel führe zwangsläufig zu langen Bearbeitungszeiten. „Seid dankbar, dass wir Euch nicht abgeschafft haben,“ fasst sie die Haltung der Regierung zusammen.
Keine staatliche Gedenkstätte
Diese Einstellung zeigt sich auch noch auf anderem Gebiet: In Rumänien gibt es bis heute keine staatliche Gedenkstätte, die an die Zeit des Kommunismus erinnert. Nur der Schriftstellerin Ana Blandiana ist es zu verdanken, dass das Gefängnis in Sighet, in dem die frühere Elite Rumäniens zugrunde gerichtet wurde, inzwischen ein Museum ist. Finanziert und betrieben wird es von einer privaten Stiftung.
Ähnliches gilt für das Gefängnis in Pitești. In Rumänien erlangte es schaurige Bekanntheit, weil sich dort die Inhaftierten, überwiegend Studenten, zu Beginn der 1950er Jahre gegenseitig foltern mussten. Auf diese Weise sollten aus ihnen „neue Menschen“ werden. Dem Umerziehungsexperiment, das später auch auf andere Gefängnisse ausgedehnt wurde, waren mehrere tausend Häftlinge ausgesetzt, von denen fast einhundert ums Leben kamen.

Von dem Foltergefängnis sind heute nur noch Teile erhalten. Nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes wurde der Komplex aufgeteilt, privatisiert und teilweise abgerissen. Erst 2023 wurden die Reste unter Denkmalschutz gestellt. Als Gedenkstätte dienen jedoch nur der Verwaltungstrakt und ein Zellenbau. Da die Heizung nicht mehr funktioniert, muss sie in den Wintermonaten ihre Pforten schließen.
Auch jetzt ist es bitterkalt in dem Gebäude, von den Wänden bröckelt der Putz. Maria Axinte, die das Museum leitet, führt die Besucher durch düstere Zellen, in denen Informationstafeln hängen. Sie ist die Tochter eines lokalen Unternehmers und hat in England studiert. Die örtlichen Behörden, so berichtet sie, zeigten sich gänzlich desinteressiert. Auf die Frage, wie hoch ihr Jahresbudget sei, lacht sie nur und sagt: „Wir haben keins. Ich verwende das Geld, das ich woanders verdiene.“
Die Wahl von Nicusor Dan zum Präsidenten könnte der Aufarbeitung der Vergangenheit in Rumänien nun erstmals neuen Schub geben. Schon als Bürgermeister von Bukarest wollte er einen staatlichen Erinnerungsort für die Opfer des Kommunismus schaffen. Als Staatschef hat er dafür ganz andere Möglichkeiten. Die Eröffnung einer Gedenkstätte, wie es sie in den meisten ehemals sozialistischen Staaten Europas seit Langem gibt, wäre ein Signal, dass die Ära Ceaușescu endgültig zu Ende geht.
Bildnachweis
(1) AUR Alianța pentru Unirea Românilor / CC0
(2) Partidul Social Democrat from Romania / CC BY 2.0
(3) Otto Stender / CC BY-SA 4.0