Kulturstaatsministerin Roth wollte Deutschland eine neue Erinnerungskultur verordnen. Gedenkstätten und Historiker sind dagegen auf die Barrikaden gegangen. Jetzt hat die Grünen-Politikerin zurückgesteckt.
Von Hubertus Knabe
Auch wenn SPD und Grüne das Gegenteil behaupten – die Bundesregierung hat zu viel Geld. Für geschichtspolitische Belehrungen wird es jedenfalls weiterhin mit vollen Händen ausgegeben: Für 134 Millionen Euro soll in Berlin ein riesiges Dokumentationszentrum zum Zweiten Weltkrieg entstehen. Kaum billiger dürfte ein deutsch-polnischer Erinnerungsort werden, der ebenfalls in der Hauptstadt geplant ist. Mehr als 200 Millionen Euro soll ein Ausstellungszentrum in Halle kosten, mit dem der Bund die „Lebensleistung der Ostdeutschen“ würdigen will. Das sind nur einige der millionenschweren Geschichtsmuseen, die die Ampel-Regierung trotz schwindender Steuereinnahmen in nächster Zeit realisieren will.
Zuständig für die Pflege der historischen Erinnerung sind eigentlich die Länder. In den letzten Jahren hat sich der Bund jedoch immer mehr Kompetenzen angeeignet. Im Februar hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth schließlich den Entwurf eines „Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ vorgelegt, das erstmals detailliert vorgab, woran Deutschland gemahnen soll.
Das 43-seitige Papier hat unter Historikern einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. In einem an Roth gerichteten Schreiben aller deutscher Gedenkstätten heißt es, das Konzept könne als „geschichts-revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen“ verstanden werden. Auch der Zentralrat der Juden übte heftige Kritik. Obwohl es nach kurzer Zeit wieder von der Website der Staatsministerin verschwand, hagelte es in der Folge kritische Presseberichte, sogar in den den Grünen sonst wohl gesonnenen Medien. Nach dem Skandal um antisemitische Kunstwerke auf der Documenta und Roths Schweigen zu den israelfeindlichen Reden auf der Berlinale hatte sich die Grünen-Politikerin wieder einmal in die Nesseln gesetzt.
Dabei hatte Roth eigentlich den großen Wurf geplant. Weil SPD, FDP und Grüne im Koalitionsvertrag vereinbart haben, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes zu aktualisieren, wollte sie die deutsche Erinnerungskultur grundlegend reformieren. Es gelte, so schrieb sie in einem Zeitungsbeitrag, „eine Erinnerungspolitik für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten.“ Doch der Berg kreißte und gebar eine Maus.
„Beflissene Seminararbeit“
Schon sprachlich ist das Papier eine Zumutung. In langen Bandwurmsätzen mäandert es um den Umgang mit der deutschen Geschichte. Den Historiker Norbert Frei erinnerte es an eine „beflissene Seminararbeit“. Noch vernichtender fiel das Urteil der Gedenkstätten aus. In ihrem Brief an die Staatsministerin schrieben sie, es enthalte keine „auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Analyse von erinnerungskulturellen Herausforderungen.“ Die Mängel in Roths Papier seien so gravierend, „dass der vorliegende Entwurf nicht weiter verfolgt werden sollte.“
Eine Kostprobe: Ein zeitgemäßes Erinnerungskonzept, so heißt es gleich auf der ersten Seite, müsse „auch den Kampf um die Demokratie in Deutschland mit in den Blick nehmen und die Verschiedenheit individueller und kollektiver Erinnerungen als formative Elemente demokratischer Gleichheit und künftiger gemeinsamer Erinnerungen gerade in einer Einwanderungsgesellschaft wertschätzen.“ Wie bitte? Quält man sich durch den für ein Kulturministerium beschämend schlechten Text, den Roths rechte Hand Andreas Görgen geschrieben haben soll, erfährt man: Der deutsche Staat soll nicht mehr nur an Nationalsozialismus und SED-Diktatur erinnern, sondern auch an den Kolonialismus, die Geschichte der Zuwanderer und die „Kultur der Demokratie“.
Zu diesem Zweck plant die Beauftragte für Kultur und Medien weitere millionenschwere Vorhaben. In Berlin will sie einen Erinnerungsort zum „europäischen und deutschen Kolonialismus“ errichten. Zum selben Thema sollen auch „kulturelle Leuchtturmprojekte“ gefördert werden. In Köln soll außerdem ein „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ entstehen, für das Roth bereits mehr als 22 Millionen Euro bewilligt hat. In Frankfurt am Main soll die Paulskirche saniert und um ein „Haus der Demokratie“ ergänzt werden, wofür sie weitere 19,5 Millionen Euro bereit stellen will. Auch für die Opfer der rechtsradikalen NSU-Gruppe soll ein Dokumentationszentrum entstehen, bei dem allein der Betrieb laut einer Machbarkeitsstudie jährlich mehr als fünfzehn Millionen Euro kosten soll.
Wie all das finanziert werden soll, darüber schweigt Roths Papier. Dabei hatte Bundesfinanzminister Lindner seinen Kabinettskollegen im März schriftlich mitgeteilt, dass es 2025 „keine zusätzlichen zur Verteilung anstehenden Finanzmittel gibt“. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Jens-Christian Wagner, warnte deshalb bereits: Wenn es insgesamt nicht mehr Mittel, aber zusätzliche Gedenkstätten gebe, könne das dazu führen, „dass die existierenden Orte ihre Arbeit in dieser Form möglicherweise nicht mehr durchführen können“. Laut letzter Steuerschätzung werden die Einnahmen des Bundes noch einmal um elf Milliarden Euro niedriger ausfallen.
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Die ungeklärte Finanzierung von Roths Plänen ist allerdings nur ein Kritikpunkt. Historiker wenden sich vor allem gegen die Ausweitung staatlichen Gedenkens auf alle möglichen Bereiche – wodurch die Verbrechen des Nationalsozialismus, aber auch der SED-Diktatur in den Hintergrund träten. Die Gedenkstätten werfen der Grünen-Politikerin deshalb vor, ihr Entwurf leite einen „geschichtspolitischen Paradigmenwechsel ein, der zu einer fundamentalen Schwächung der Erinnerungskultur führen würde.“
„Pflichtschuldiges Mantra“
In Roths Konzept, so heißt es in ihrer Stellungnahme, werde der zentrale Stellenwert der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für das Selbstverständnis der Bundesrepublik nicht deutlich. Vielmehr erscheine die Erwähnung der Menschheitsverbrechen der Shoa nur noch wie „ein pflichtschuldiges Mantra.“ Auch die Ausführungen zum kommunistischen Unrecht ließen „Zweifel an einer reflektierten Haltung zu den DDR-Staatsverbrechen aufkommen.“
Tatsächlich behandelt das Papier die kommunistische Diktatur in Ostdeutschland nur unter der Überschrift „Deutsche Teilung / Deutsche Einheit“. Dort heißt es, dass neben die Geschichte von Repression, Widerstand und Friedlicher Revolution „zunehmend eine kritische Reflexion der Transformationszeit“ nach der Wiedervereinigung getreten sei. Die anfängliche Konzentration auf Täter und Opfer und die Stasi sei einer „differenzierten Auseinandersetzung mit dem Leben in der SED-Diktatur gewichen.“ Dass die vom Bund geförderten Gedenkstätten die Aufgabe haben, gerade solchen Verharmlosungstendenzen entgegenzuwirken, steht nicht in Roths Konzept.
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Naiv und gefährlich wirken die Ausführungen zur „Einwanderungsgesellschaft“. Während Gedenkstätten mit dem Problem ringen, wie sie Migranten die Einsichten aus Nationalsozialismus und Kommunismus nahebringen sollen, will Roth den umgekehrten Weg gehen: Ziel sei es, „aus den vielen verschiedenen Erfahrungen, Perspektiven und historischen Erinnerungen heraus ein gemeinsames Erinnern in die Zukunft unserer Gesellschaft möglich zu machen.“ Die deutsche Erinnerungskultur soll in einer bunten Mischung multikultureller Narrative aufgelöst werden. Wozu diese scheinbar progressive Toleranz führen kann, zeigt sich schon heute an Schulen und Universitäten, wo Antizionismus und Antisemitismus auf dem Vormarsch sind.
Dazu passt die unkritische Übernahme post-kolonialer Diskurse durch Deutschlands oberste Kulturbehörde. Unter Roths Ägide arbeitet diese unter anderem mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) zusammen, in deren Vorstand eine ultralinke Marxistin sitzt. Dies macht sich auch in dem Konzept bemerkbar. Demnach lassen sich „viele aktuelle Phänomene von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der aktuellen Weltordnung“ an den Folgen von Imperialismus und Kolonialismus festmachen. Das zeige sich unter anderem in instabilen Regierungen, ethnischen Konflikten, Migration und Rassismus. Diese verkürzte Sicht auf die Probleme Afrikas soll auch der geplante Lern- und Erinnerungsort vermitteln, für den eine Expertenkommission bereits ein Gutachten entwickele.
Ende April haben sich die Gedenkstätten ein zweites Mal zu Wort gemeldet. In einem Schreiben formulierten sie eigene Leitlinien für eine Überarbeitung der Gedenkstättenkonzeption. Die nationalsozialistischen Verbrechen müssten danach weiterhin „eine herausgehobene Stellung“ einnehmen. Auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur sei „eine gesamtstaatliche Aufgabe“. Zudem habe es sich bewährt, „ausschließlich Gedenkstätten an Orten staatlich organisierter Verbrechen“ in den Blick zu nehmen.
Bei einer Überarbeitung, so heißt es weiter, könnten zwar auch Orte aufgenommen werden, die Bezug zum deutschen Kolonialismus hätten. Doch müssten für sie dieselben Förderkriterien wie für alle anderen gelten: Ausschlaggebend seien der nationale Stellenwert des historischen Ortes und die Qualität des Konzeptes. Mit diesen Vorgaben wäre ein anti-kolonialistisches Propagandazentrum nicht zu machen.
Roths Rückzieher
Die heftigen Reaktionen auf ihr Papier haben Roth offenkundig überrascht. Noch im Januar hatte sie auf einer Tagung des Zentralrats der Juden stolz auf das damals noch in Arbeit befindliche Konzept verwiesen. Augenscheinlich hatte sie niemand darauf hingewiesen, dass die Gedenkpolitik des Bundes das mit Abstand schwierigste Feld ihres Ressorts ist. Ihr Plan, eine neue Erinnerungspolitik für Deutschland auszurufen, ist krachend gescheitert.
Inzwischen hat Roth den Rückzug angetreten. Während sie ursprünglich in der zweiten Aprilhälfte ihr Konzept auf großen „Dialogforen“ diskutieren lassen wollte, um es „anschließend“ fertigzustellen, war davon bald keine Rede mehr. Auch die spätere Ankündigung, Anfang Mai zu einem „Runden Tisch Gedenkstätten“ einzuladen, wurde kurz darauf wieder kassiert. Auf die Frage, wann das Konzept dem Bundestag vorgelegt werden soll, antwortete eine Sprecherin Mitte Mai nur noch vage: „Voraussichtlich im Herbst.“
Am 6. Juni traf sich Roth schließlich im Bundeskanzleramt mit den Gedenkstättenvertretern. Was dort hinter verschlossenen Türen besprochen wurde, wollte Roths Sprecherin nicht sagen. Statt dessen veröffentlichte die Behörde nur ein knappes gemeinsames Statement. Zusammen mit den Gedenkstätten will sie nun die bestehende Bundeskonzeption fortschreiben. Es bleibt auf die Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des SED-Unrechts beschränkt. „Andere wichtige Themenfelder wie der Kolonialismus, die Geschichte des Rechtsterrorismus und des staatlichen Versagens in dieser Sache, das Erinnern in der Einwanderungsgesellschaft und die Demokratiegeschichte werden von der BKM mit Expertinnen und Experten sowie zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren weiter beraten.“
Roths Papier ist damit vom Tisch. Ob in dieser Legislaturperiode überhaupt noch eine neue Gedenkstättenkonzeption verabschiedet wird, ist fraglich. Denn auch deren Überarbeitung braucht Zeit und bereits im September nächsten Jahres sind Bundestagswahlen. Spätestens danach dürfte die dann 70-jährige Grünen-Politikern selber Geschichte sein.
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