US-Präsident Biden hat erklärt, Putin könne nicht an der Macht bleiben. Doch selbst bei einer Niederlage Russlands im Ukraine-Krieg dürfte dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen. Wahrscheinlicher ist eine andere Option.
Von Hubertus Knabe
In Warschau hat US-Präsident Joe Biden unlängst ausgesprochen, was viele bislang nur gedacht haben: „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Er meinte den russischen Präsidenten Wladimir Putin, der für den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine und die dort begangenen mutmaßlichen Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Doch die Chancen, dass Putin abgelöst oder gar vor Gericht gestellt wird, stehen schlecht.
Nicht einmal zu Sowjetzeiten war es so schwierig, einen Kreml-Herrscher zu entmachten wie im heutigen Russland. Denn damals, als noch der Generalsekretär der KPdSU über die Geschicke des Riesenreiches entschied, reichte es aus, dass das Zentralkomitee (ZK) dessen Ablösung beschloss. Leonid Breschnew stürzte 1964 auf diese Weise Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow. Auch Walter Ulbrichts und Erich Honeckers Entmachtung in der DDR erfolgten nach demselben Muster.
In allen Fällen bedurfte es geheimer Absprachen zwischen den Mitgliedern des Politbüros, da „Fraktionsbildung“ in den kommunistischen Parteien streng verboten war. In einer Sitzung der obersten Führung wurde dann der jeweilige Generalsekretär mit dem „Vorschlag“ seiner Ablösung überrascht. Stimmte die Mehrheit dafür, wurde das Zentralkomitee einberufen, um den Machtwechsel zu bestätigen.
Putins Verfassung
Seit dem Ende der Sowjetunion gelten jedoch andere Regeln. Gemäß der russischen Verfassung kann ein Präsident nur im Fall von Rücktritt, schwerer Krankheit oder Amtsenthebung ersetzt werden. Letztere ist an derart viele Bedingungen geknüpft, dass sie so gut wie undurchführbar ist.
Das Oberste Gericht muss nämlich zunächst Anklage wegen Staatsverrats oder einer anderen schweren Straftat erheben. Das Verfassungsgericht muss diese Anklage anschließend prüfen und bestätigen. Beide Gerichte bestehen ausschließlich aus Richtern, die auf Vorschlag des Präsidenten ernannt wurden. Danach muss auch noch die Duma der Anklage zustimmen, doch 351 von 450 Abgeordneten befürworteten Ende Februar die russische Invasion in die Ukraine. Erst wenn die Duma dem Antrag zugestimmt hat, kann der Föderationsrat die Amtsenthebung beschließen. Und selbst danach wäre Putin dank der Verfassungsänderung von 2020 lebenslang vor Strafverfolgung geschützt.
Denkbar sind natürlich auch noch andere Szenarien. Das Militär könnte zum Beispiel gegen Putin putschen. Mindestens zweimal wurde in den letzten 70 Jahren versucht, einen Spitzenpolitiker im Wege einer Verschwörung zu entmachten. Stets spielte das Militär dabei eine entscheidende Rolle.
Berijas Verhaftung
Der erste Fall ist der des sowjetischen Innenministers und Geheimdienstchef Lawrenti Berija. Seit 1938 organisierte dieser für Stalin den Terror in der Sowjetunion. Nach dessen Tod versuchte er, seine Nachfolge anzutreten. Da die übrigen Politbüromitglieder fürchteten, auch sie könnten dann bald zu Berijas Opfern zählen, verabredeten sie 1953 in Vier-Augen-Gesprächen, ihn abzulösen und zu verhaften.
Um den Parteistatuten zu entsprechen, funktionierten die Verschwörer eine Sitzung des Präsidiums des Ministerrates am 26. Juni zu einer des ZK-Präsidiums um. Da der damalige Ministerpräsident Georgi Malenkow nach Stalins Tod vorübergehend auch Parteichef war, war dies problemlos möglich. Wie Chruschtschow in seinen Erinnerungen schildert, war er es dann, der den Vorschlag machte, das Plenum des ZK solle Berija von seinen Funktionen entbinden.
Da Berija Herr über die Sicherheitskräfte war, war dies ein riskantes Manöver. Chruschtschow und seine Mitstreiter fürchteten, Berija könnte die bewaffneten Kräfte des Innenministeriums, die sich im Kreml in großer Zahl aufhielten, alarmieren. Tatsächlich fand sich später in seiner Aktentasche ein Zettel, auf den er von oben bis unten mit Rotstift das Wort „Alarm“ geschrieben hatte. Auch Putin verfügt über eine Nationalgarde von rund 200.000 Mann, die ihm direkt unterstellt ist.
Der sowjetische Verteidigungsminister Nikolai Bulganin hatte deshalb eine Gruppe hoher Militärs gebeten, sich im Vorraum bereit zu halten. Auf ein vorher vereinbartes Signal hin betraten sie den Sitzungsraum, wo ihnen Malenkow befahl: „Als Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR fordere ich Sie auf, Berija zu verhaften.“ Der überraschte Innenminister musste die Hände heben und wurde durchsucht. Anschließend führte man ihn in einen benachbarten Aufenthaltsraum. Erst gegen Mitternacht bestellte der Kommandeur des Einsatzes eine Gruppe von 30 Offizieren in den Kreml, die die Wache im Innern des Gebäudes ablösten. Danach wurde Berija auf dem Rücksitz eines SIS-110 unbemerkt durch das Spasski-Tor herausgebracht.
Selbst als dies geschafft war, hatten die Verschwörer noch Angst, dass Berija befreit werden könnte. Deshalb wurde er in der nächsten Nacht aus der Arrestanstalt des Militärbezirks Moskau in einen unterirdischen Bunker gebracht, der dem Stab als Ausweichkommandozentrale diente. Der Gebäudekomplex wurde durch schwere Maschinengewehre mit eingelegten Patronengurten gesichert, im hell beleuchteten Hof standen gefechtsbereite Panzer. Nach sechsmonatigen Verhören wurde Berija am 23. Dezember 1953 zum Tode verurteilt und anschließend an Ort und Stelle erschossen.
Der Putsch gegen Gorbatschow
Dramatisch ging es auch 1991 zu, als Michail Gorbatschow als Präsident der UdSSR abgesetzt werden sollte. Ein Großteil der sowjetischen Führung hatte sich damals zusammengetan, um seine Reformpolitik zu stoppen. Dem „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ gehörten nicht nur der Vizepräsident und der Premierminister an, sondern auch der Innenminister, der Verteidigungsminister und der Chef des KGB. Unterstützt wurde der Putsch zudem vom Vorsitzenden des Obersten Sowjets, vom stellvertretenden Verteidigungsminister und – wichtig für die praktische Durchführung – vom Leiter der Bewachungsdienste.
Am 18. August 1991 wurde Gorbatschow von Sicherheitskräften überraschend festgesetzt. Da er gerade in der Datscha Tesseli an der Südspitze der Krim Urlaub machte, war er leicht zu isolieren. Die Putschisten verlangten, dass Gorbatschow der Verhängung des Notstands zustimmen und die Macht an seinen Stellvertreter übergeben sollte. Das russische Fernsehen teilte unterdessen mit, er sei erkrankt und könne seine politischen Ämter nicht mehr ausüben. Seine Amtsgeschäfte habe der Vizepräsident übernommen, das Staatskomitee würde vorübergehend die Regierung stellen.
Doch der Umsturzversuch scheiterte. Gorbatschow weigerte sich, die entsprechenden Dokumente zu unterzeichnen. In Moskau und Leningrad gingen Tausende Demonstranten auf die Straße, um gegen den Putsch zu protestieren. Der Präsident der russischen Unionsrepublik, Boris Jelzin, erließ einen Ukas, der das Staatskomitee für illegal erklärte. Als Panzer vor seinem Regierungssitz, dem „Weißen Haus“, auffuhren, stieg er auf eines der Fahrzeuge und forderte die Soldaten auf: „Werdet nicht zur blinden Waffe des verbrecherischen Willens von Abenteurern!“ Weil sich die Mehrheit der Truppen weigerte, den Befehlen des Komitees zu folgen, brach der Putsch nach drei Tagen zusammen.
Dass es in den nächsten Wochen oder Monaten zu einem ähnlichen Umsturzversuch in Russland kommt, erscheint äußerst unwahrscheinlich – selbst wenn die russische Armee den Krieg in der Ukraine verlieren würde. Dagegen spricht nicht nur die Tatsache, dass Putin 22 Jahre Zeit hatte, die wichtigsten Funktionen im Staat mit Vertrauten zu besetzen. Die Chefs des Inlandsgeheimdienstes FSB, des Auslandsspionagedienstes SWR, der Nationalgarde sowie der Sekretär des russischen Sicherheitsrates arbeiteten wie Putin einst in Leningrad für den KGB. Auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der seit 10 Jahren im Amt ist, gilt trotz des stockenden Feldzuges in der Ukraine als enger Ratgeber des Präsidenten. Wegen ihrer großen wirtschaftlichen Privilegien haben viele Funktionäre auch ein persönliches Interesse daran, dass Putin an der Macht bleibt.
Auch formal wäre ein Umsturz schwer zu legitimieren. Denn de facto kann das Amt des Präsidenten nur bei Rücktritt oder Tod des Amtsinhabers neu besetzt werden. Und selbst dann würde laut Verfassung Ministerpräsident Michail Mischustin Interimspräsident – ein Mann, den Putin erst vor zwei Jahren in sein Amt berief, nachdem er laut Kreml-Kritiker Alexej Nawalny als Chef der Steuerbehörde ein Milliardenvermögen angehäuft hatte.
Wahrscheinlicher ist deshalb, was schon immer für die meisten Herrscher im Kreml galt: Dass sie bis zu ihrem Lebensende an der Macht bleiben. Immerhin fünf der zehn Autokraten, die dort in den letzten einhundert Jahren regierten, sind nämlich in ihrem Amt gestorben – von Lenin über Stalin bis Breschnew, Andropow und Tschernjenko. Nur Chruschtschow wurde abgesetzt, während Gorbatschow sein Amt am Ende durch Auflösung der UdSSR verlor. Die vorübergehenden Präsidentschaft von Dmitrij Medwedew hatte rein verfassungsrechtliche Gründe und änderte nichts an den tatsächlichen Machtverhältnissen.
Freiwillig zurückgetreten ist nur ein einziger russischer Machthaber: der alkoholkranke Boris Jelzin, der vor mehr als 22 Jahren Putin zu seinem ewigen Nachfolger machte.
Der Text erschien zuerst bei: Focus.de am 2. April 2022 (aktualisiert am 14.04.2022).
Leseempfehlungen: Wladimir F. Nekrassow, Berija: Henker in Stalins Diensten. Ende einer Karriere;
Sergej Lebedew, Menschen im August (Roman über den Gorbatschow-Putsch).
Bildnachweis
(1) Kremlin.ru / CC BY 4.0
(2) RIA Novosti archive, image #159271 / V. Malyshev / CC-BY-SA 3.0
(3) Vitaly V. Kuzmin / CC BY-SA 4.0
(4) Bundesarchiv, Bild 183-1986-0421-010 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA 3.0
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