Der unschuldige Marx

Vordenker der kommunistischen Diktatur - DDR-Denkmal für Karl Marx am Strausberger Platz in Berlin

In Berlin befasst sich eine neue Ausstellung mit dem Werk von Karl Marx – gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Dessen Wirkungen werden darin ausgeblendet. Das Deutsche Historische Museum begründet das damit, dass es Marx „historisieren“ wolle.

Von Hubertus Knabe

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, heißt es im „Manifest der Kommunistischen Partei“, das Karl Marx und Friedrich Engels 1848 für den Bund der Kommunisten verfassten. Ihr Geschichtsbild, demzufolge sich zwei Klassen stets unversöhnlich gegenüber stünden, bis eine kommunistische Revolution dem ein Ende bereite, wurde den Menschen im real existierenden Sozialismus jahrzehntelang eingetrichtert. Den totalitären Machthabern, von Josef Stalin über Mao Tse-tung bis Pol Pot, diente es als Begründung für Diktatur und Massenmord.

Ein Ort, wo dieses Geschichtsbild täglich gelehrt wurde, war das Museum für Deutsche Geschichte in Ost-Berlin. SED-Chef Walter Ulbricht persönlich hatte 1952 die Dauerausstellung abgenommen, die bald darauf ins Zeughaus an der Prachtstraße Unter den Linden umzog. Ein Jahr später eröffnete hier eine Sonderausstellung über Karl Marx, die er nicht weniger akribisch inspizierte. „Geschichte ist richtig dargestellt (bis auf Kleinigkeiten). Die Besucher werden etwas lernen,“ lautete damals das Urteil des gelernten Tischlers.

„Die Besucher werden etwas lernen“ – Verleihung des Karl-Marx-Ordens an SED-Chef Walter Ulbricht (2.v.l.) 1953 (1)

Am selben Ort – in einem Anbau – wurde kürzlich erneut eine Marx-Ausstellung eröffnet. „Karl Marx und der Kapitalismus“ lautet der Titel der Exposition im Deutschen Historischen Museum. Vom früheren christdemokratische Bundeskanzler Helmut Kohl ins Leben gerufen, residiert Deutschlands nationales Geschichtsmuseum seit 1990 in Ulbrichts ehemaliger Indoktrinationsanstalt. Doch wer erwartet hätte, dass der Säulenheilige des Kommunismus diesmal einer kritischen Betrachtung unterzogen würde, sieht sich enttäuscht. Die Wirkungen von Marx‘ Schriften, in der DDR und anderen Teil der Welt, kommen in der Ausstellung nicht vor.

Als Begründung nannte der seit 2017 amtierende Museumschef Raphael Gross bei der Eröffnung, die Exposition wolle Marx „historisieren“. Sie beleuchte ihn deshalb in der Zeit, bevor sein Werk eine starke Verbreitung gefunden hätte und er weltweit zur Ikone geworden sei. Durch diesen Kunstgriff gibt der Schweizer Historiker dem Vordenker des Kommunismus ausgerechnet im ehemaligen zentralen DDR-Geschichtsmuseum seine vermeintliche Unschuld zurück.

„Karl Marx historisieren“ – Ausstellungstransparent im Anbau des Deutschen Historischen Museums in Berlin

Bebilderte Marx-Engels-Werke

Zu sehen bekommt der Besucher deshalb keine Ausstellung, die sich der Geschichte des eigenen Hauses stellt. Sie beschreibt auch nicht den uferlosen Marx-Kult in der DDR , der in der Benennung einer ganzen Stadt nach ihm gipfelte. Stattdessen präsentiert das Museum eine Art bebilderte Kurzfassung der „Blauen Bände“, wie die vom  Zentralkomitee der SED herausgegebenen Marx-Engels-Werke wegen ihres farbigen Einbands genannt wurden. Da Marx‘ Texte oft langatmig und schwer verständlich sind, ist die Ausstellung entsprechend ermüdend, woran auch die grellen Farben der Wände und die herangeschafften Objekte nicht viel ändern können.

Die Ausstellungsmacher versuchen dem entgegenzuwirken, indem sie Marx‘ gescheiterten Theorien eine neue Aktualität zusprechen. Gleich zu Beginn erfährt der Besucher, dass im Mittelpunkt sieben Themen stünden, die „angesichts heutiger Transformationen und Krisen nichts von ihrer Brisanz verloren“ hätten. Sie zählen dazu unter anderem Antisemitismus, Neue Technologien, Naturzerstörung und Globale Wirtschaftskrisen. Schon diese durchaus willkürlich erscheinende Auswahl wirkt, als sei es der Kuratorin Sabine Kritter nicht darum gegangen, Marx Denken kritisch zu hinterfragen, sondern ihm neues Leben einzuhauchen. Der Titel der Ausstellung könnte auch auf einer Broschüre der Linkspartei stehen.

„Nichts an Brisanz verloren“ – Einführungstafel zur Marx-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin

Tatsächlich macht sich die Kuratorin Marx‘ Analysen an vielen Stellen direkt oder indirekt zu eigen. Breiten Raum in der Ausstellung nimmt zum Beispiel seine Kritik an den Auswüchsen der frühen Industrialisierung ein. Auf der Strecke bleibt dabei, dass es dieser technische Fortschritt war, der Europa und weite Teile der Welt von Armut und Plackerei befreite, und dass sich die Arbeitsbedingungen stetig verbesserten. Die Übereinstimmung zwischen Marx und der Kuratorin geht so weit, dass man manchmal nur am Gendern erkennt, von wem eine Formulierung stammt. „Die Arbeitskraft der Arbeiterinnen und Arbeiter konnte stärker ausgebeutet und ein höherer Mehrwert erzielt werden,“ . lautet beispielsweise die Erläuterung eines Transmissionsrades für den Maschinenantrieb in einer Berliner Fabrik.

Eine merkwürdige Adaption Marxscher Ideen stellt auch eine Installation dar, die suggeriert, dass ein privater Betrieb grundsätzlich nur egoistische Ziele verfolge. Mit einer Luftpumpe kann man dort unter anderem beeinflussen, wie stark ein Unternehmen in neue Maschinen investiert. Pumpt man zu wenig, geht es bankrott; pumpt man mehr, hält es in der Konkurrenz mit; pumpt man sehr kräftig, dominiert es. Dass erfolgreiche, hochtechnisierte Unternehmen auch im Interesse der Beschäftigten und des Staates liegen, bleibt unerwähnt.

Merkwürdige Adaption Marxscher Ideen – Luftpumpen-Installation über die Folgen unternehmerischer Investitionen

Aus dem Programm der Linkspartei

Direkt aus dem Programm der Linkspartei könnte der Abschnitt über Natur und Ökologie stammen. Der Besucher erfährt hier, dass sich Marx auch mit ökologischen Fragen und der Zerstörung der Wälder befasst hätte. „Ursachen für die ungebremste Ausbeutung der Natur sah Marx darin, dass die kapitalistische Wirtschaft auf ständigem Wachstum und Gewinnmaximierung basierte,“ heißt es dann. Von den katastrophalen Umweltzerstörungen durch sozialistische Betriebe – in den südlichen Industriegebieten der DDR litt fast jedes zweite Kind an Atemwegserkrankungen – liest man nichts.

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Selbst da, wo Marx nach heutigen Maßstäben politisch unkorrekt war, nimmt ihn die Ausstellung in Schutz. So finden sich in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ unter anderem die Sätze: „Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Die Kuratorin macht daraus: „Im kürzeren, zweiten Teil seines Aufsatzes nutzt er den Begriff Juden als Chiffre für das Geldwesen.“

„Juden als Chiffre für das Geldwesen“ – Ausstellungstafel zum Thema Antisemitismus in der Berliner Marx-Ausstellung

Euphemistisch ist auch der Text zum Thema Frauenemanzipation. Bekanntlich war Marx nicht nur privat ein strenger Patriarch, der die Sorge um seine drei Töchter allein seiner Frau überließ. Als die einmal verreist war, zeugte er mit seiner Haushälterin ein Kind, für das sich dann der Textilfabrikant Friedrich Engels verantwortlich erklären musste. Auch über politische Gegnerinnen und deren Aussehen zog er in seinen Briefen her. Vor allem aber spielten die Rechte der Frau, die damals nicht einmal wählen durfte, in Marx‘ Veröffentlichungen nur eine Nebenrolle. Die Ausstellung hebt demgegenüber hervor, dass dieser sich „für streikende Arbeiterinnen und für die Mitgliedschaft von Frauen in der Internationale“ eingesetzt hätte.

Um die zentrale Frage, die sich bei der Lektüre von Marx‘ Schriften heute stellt, macht die Ausstellung hingegen einen Bogen: Welche Ansatzpunkte lieferten sie für die spätere kommunistische Gewaltherrschaft? Seine Verteufelung des Privateigentums an Produktionsmitteln bildete in vielen Ländern den Ausgangspunkt für die physische Vernichtung des Bürgertums. Seine Überzeugung, nur ein gewaltsamer Umsturz könne die Lage der Arbeiterschaft verbessern, führte zu blutigen Erhebungen mit unzähligen Toten. Seine Auffassung, dass zur Abschaffung der Klassenunterschiede eine Diktatur des Proletariats notwendig sei, begründeten terroristische Regime in der ganzen Welt. Auch sein gnadenloser Umgang mit politischen Gegnern wurde prägend für die kommunistische Bewegung.

Gnadenloser Umgang mit politischen Gegnern – Erinnerung an unter Stalin ermordete Kommunisten bei St. Petersburg

Im sogenannten Epilog, der mit „Wirkungsgeschichte“ überschrieben ist, schrumpfen diese Folgen auf einen einzigen Satz zusammen: „Mit dem Marxismus-Leninismus legitimierten auch autoritäre Regime ihre Herrschaft.“ Die Vorstellung, Marx sei nicht dafür verantwortlich zu machen, erinnert an eine Karikatur des DDR-Grafikers Roland Beier aus dem Jahr 1990. Sie zeigt einen Marx, der unschuldig zu Boden blickt und erklärt: „Tut mir leid Jungs! War halt nur so ’ne Idee von mir…“

Der Text erschien zuerst in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. März 2022.

Leseempfehlung: Konrad Löw, Marx und Marxismus: Eine deutsche Schizophrenie – Thesen, Texte, Quellen. Ders., Der Mythos Marx und seine Macher. Wie aus Geschichten Geschichte wird. 

Bildnachweis
(1) Bundesarchiv, Bild 183-19634-0001 / CC-BY-SA 3.0

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