Der Verrat der Intellektuellen

Am 17. Juni 1953 protestierten in der DDR Hunderttausende Arbeiter gegen die miserablen Lebensbedingungen. Ausgerechnet linke Intellektuelle beschimpften sie deshalb als Faschisten.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Der Arbeiterschaft galt seine politische Mission. Obwohl selbst Sohn eines Fabrikdirektors, verstand sich der Schriftsteller Bertolt Brecht seit Mitte der 1920er Jahre als Marxist und Kommunist. In seinem eigens für die Arbeiterbewegung geschriebenen „Einheitsfrontlied“ dichtete er 1934: „Und weil der Mensch ein Mensch ist,/drum braucht er was zu essen, bitte sehr!/Es macht ihn ein Geschwätz nicht satt,/das schafft kein Essen her.“

Knapp 20 Jahre später, Brecht lebte inzwischen in einem Landhaus in der DDR, war ein Großteil der ostdeutschen Arbeiter derselben Meinung. Während an den Straßen und Gebäuden Transparente vom Aufbau des Sozialismus kündeten, funktionierte oft nicht einmal die grundlegendste Versorgung mit Nahrungsmitteln. „Kollegen, was sich jetzt bei uns tut, ist für uns Arbeiter beschämend,” zitierte eine ostdeutsche Zeitung Ende Mai 1953 einen Beschäftigten. „Siebzig Jahre nach dem Tode von Karl Marx müssen wir noch über die elementarsten Lebensbedingungen debattieren.”

„Für uns Arbeiter beschämend“ – Die Schöpfer des „Einheitsfrontliedes“ Hanns Eisler (l.) und Bertolt Brecht 1950 (1)

Saftige Preiserhöhungen im staatlichen Einzelhandel und eine Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent brachten das Fass zum Überlaufen. Am 17. Juni 1953 kam es deshalb in der ganzen DDR zu Massenstreiks und Großdemonstrationen. Allein in Ostberlin gingen rund 100.000 Menschen auf die Straße. Auch in Leipzig, Dresden oder Halle protestierten Zehntausende gegen die Regierung, rund 600 Betriebe traten spontan in den Streik. Die sozialen Forderungen schlugen rasch in politische um: Freilassung der politischen Gefangenen, Rücktritt der Regierung, freie Wahlen.

Ergebenheitsadressen an Ulbricht

Anders als im Refrain seines Liedes verlangt, reihte sich Brecht damals nicht in die „Arbeitereinheitsfront“ ein. Stattdessen setzte er am Morgen des 17. Juni drei Solidaritätsadressen an die Machthaber auf, die den Protest ab den Mittagsstunden von sowjetischen Truppen niederschlagen ließen. An SED-Chef Walter Ulbricht schrieb er unter anderem: „Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszusprechen.“ Triumphierend druckte das SED-Zentralorgan Neues Deutschland den Satz am nächsten Tag ab. Ulbricht bedankte sich persönlich bei Brecht für die Ergebenheitsadresse.

Solidaritätsadressen an die Machthaber – Antwortschreiben von Walter Ulbricht an Bertolt Brecht vom 9. Juli 1953

Brecht war nicht der einzige linke Intellektuelle, der den protestierenden Arbeitern in den Rücken fiel. Auch andere namhafte Schriftsteller und Künstler stellten sich auf die Seite des kommunistischen Regimes. Mehr noch: Viele von ihnen beteiligten sich aktiv daran, die frei erfundene Behauptung weiterzuverbreiten, es hätte sich um einen vom Westen initiierten „faschistischen Putschversuch“ gehandelt. Reihenweise veröffentlichte Neues Deutschland im Juni 1953 entsprechende Erklärungen.

Bereits am Morgen des Aufstands hatte das Parteiblatt verkündet, „faschistische Provokateure“ aus West-Berlin hätten die Bauarbeiter am Vortag angestiftet, zum DDR-Regierungssitz zu ziehen und gegen die Normenerhöhung zu protestieren. Am darauffolgenden Tag behauptete es, die „faschistischen Agenturen“ im Westen hätten „Hunderte und Tausende von Provokateuren“ in die DDR entsandt, „um die Arbeit der Regierung um jeden Preis zu stören“. Am Ende verstieg sich das Zentralkomitee zu der Erklärung, amerikanische und deutsche „Kriegstreiber“, die möglichst rasch einen dritten Weltkrieg entfesseln wollten, seien für die „faschistische Provokation“ verantwortlich gewesen. „So sollte in der Deutschen Demokratischen Republik eine faschistische Macht errichtet und Deutschland der Weg zu Einheit und Frieden verlegt werden.“

„Tausende von Provokateuren entsandt“ – Kundgebung am 17. Juni 1953 in der thüringischen Kleinstadt Sömmerda (2)

Ausgerechnet prominente Linksintellektuelle machten sich diese Behauptungen zu Eigen – obwohl sie vielfach mit eigenen Augen gesehen hatten, wie die unzufriedenen Arbeiter durch die Straßen gezogen waren. Robert Havemann zum Beispiel, damals Institutsdirektor an der Berliner Humboldt-Universität, war persönlich dabei, wie die Bauarbeiter am 16. Juni vor dem Haus der Ministerien demonstriert und zum Generalstreik aufgerufen hatten. Gleichwohl bezeichnete er die Proteste im Neuen Deutschland als „verbrecherische Provokation der westlichen Agentenzentralen“. Angeblich hätten die „Westberliner Hetz- und Terrorzentralen“ damit versucht, einen Gegensatz zwischen der Regierung und der Arbeiterschaft hervorzurufen.

Andere schmückten die Propaganda der SED noch weiter aus. So berichtete der Schriftsteller Stefan Heym in der Berliner Zeitung über angebliche „Ausschreitungen des Mobs von faschistischen Stoßtrupplern in Ringelsöckchen und Cowboyhemden“. Seiner Meinung nach musste die „Ordnung eines Staates, in dem die Arbeiter die führende Rolle haben“ deshalb „durch die reifere, größere, erfahrenere Arbeitermacht der Sowjets verteidigt werden“.

Noch abschätziger äußerte sich der Schriftsteller Erich Loest über die Demonstranten. Im Neuen Deutschland schrieb er: „Wer noch den geringsten Zweifel hegte, wo die Leute herkamen, die den offenen, schamlosen Terror in Berlins Straßen tragen wollten, der konnte sich in den Nachmittags- und Abendstunden überzeugen: An den Sektorengrenzen strichen sie herum und suchten eine Lücke. Heruntergekommene Jugendliche, Strolche, ›Bubis‹ mit chromblitzenden Rädern, Mädchen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte – was in Westberlin an Abschaum aufzubieten war, hatte versucht, die Arbeiter des demokratischen Sektors vor den Kriegskarren ihrer Hintermänner zu spannen.“

„Mädchen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte“ – Ergebenheitsadresse von Erich Loest vom 21. Juni 1953

Viele linke Intellektuelle verglichen die protestierenden Arbeiter sogar mit den Nationalsozialisten. So berichtete der jüdische Schriftsteller Friedrich Wolf, dass eine „Gangstergruppe“ am 17. Juni versucht hätte, sein Auto in Brand zu stecken – und fuhr fort: „Plötzlich tauchten in meiner Erinnerung die Nazibrandstifter von 1933 auf, die in Berlin mit dem Reichstagsbrand und der Verbrennung der fortschrittlichen Bücher vor der Universität einen Zündstoff schufen für den zweiten Weltbrand mit den Bombennächten über Berlin und Coventry, London und Warschau.“ In Wirklichkeit hatte er den Zorn der Demonstranten auf sich gezogen, weil er in einer DDR-Regierungslimousine durch die Stadt chauffiert worden war.

„Zündstoff für den zweiten Weltbrand“ – Brennende Kuppel des Berliner Reichstagsgebäudes im Februar 1933 

„Brutale Gestalten der Nazi-Zeit“

Auch Brecht, der am 17. Juni zweimal zum Brandenburger Tor gegangen war, rückte die Demonstranten in die Nähe der Nazis. In einem Brief an seinen westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp behauptete er nicht nur, „Agenten“ mit „Westfahrrädern“ und „allerlei deklassierte Jugendliche“, die „kolonnenweise eingeschleust“ worden wären, hätten die Straße beherrscht, sondern auch die „scharfen, brutalen Gestalten der Nazizeit, die man seit Jahren nicht mehr hatte in Haufen auftreten sehen, und die doch immer dagewesen waren“. Der Qualm eines in Brand gesteckten Hauses an der Sektorengrenze, in dem sich eine Polizeistation befand, erschien ihm „wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstagsgebäudes.“ Dass auch Loest den Arbeitern vorwarf, zugesehen zu haben, „wie der Faschismus versuchte, die Straßen von Berlin in seine Gewalt zu bekommen“, war besonders infam, da er selbst begeistertes NSDAP-Mitglied und Werwolf gewesen war.

Mit ihren Äußerungen stellten die linken Intellektuellen nicht nur die Wirklichkeit auf den Kopf. Sie lieferten der SED auch eine Rechtfertigung für die brutale Niederschlagung der Proteste. Tausende Streikführer und Demonstranten landeten damals im Gefängnis, mehrere Aufständische wurden standrechtlich erschossen. Statt für die verfolgten Arbeiter Partei zu ergreifen, begrüßten viele Prominente die Repressalien und forderten teilweise noch härtere Maßnahmen.

Der jüdische Komponist Paul Dessau zum Beispiel, der im Exil proletarische Kampflieder vertont hatte, erklärte, dass die sowjetischen Truppen durch ihr „entschlossenes Durchgreifen gegen die faschistischen Brandstifter in Berlin die Freiheit für das deutsche Volk gesichert“ hätten. Im Neuen Deutschland verlangte er, dass die „Brandstifter” nun „mit Stumpf und Stiel” ausgerottet werden müssten, was Aufgabe „jedes anständigen Deutschen” sei.

„Mit Stumpf und Stiel ausrotten” – Prozess gegen den Görlitzer Streikführer Werner Herbig (r.) am 10. Juli 1953 (3)

Auch der Bildhauer Fritz Cremer begrüßte es, dass die Rote Armee „gegen die faschistischen Rowdys jetzt mit unerbittlicher Strenge vorgeht und Todesurteile gegen sie fällt. Das ist die einzige Sprache, die diese Banditen verstehen.“ Die „Provokateure aus Westberlin“ müssten unbedingt gefangen und den Kriegsgerichten übergeben werden. Er forderte jeden Bürger auf, „die Augen aufzumachen und dabei mitzuhelfen, dass diese kriminellen Subjekte festgenommen werden.“

Der Fall Erna Dorn

Eine bedeutende Rolle in der damaligen Propaganda spielte der Fall einer geistig verwirrten Frau, die beim Sturm des Frauengefängnisses in Halle freigekommen war. Sie saß dort in Haft, weil sie erklärt hatte, sie sei Aufseherin in einem KZ gewesen – was nachweislich nicht stimmte. In einer Erklärung behauptete das Zentralkomitee am 21. Juni: „An Hand der in den Westberliner Agentenzentralen vorbereiteten Listen wurden vorübergehend faschistische und kriminelle Verbrecher aus der Haftanstalt herausgeholt, wie zum Beispiel die wegen bestialischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der demokratischen Justiz verurteilte SS-Kommandeuse des Frauenkonzentrationslagers, Erna Dorn.“ Am nächsten Tag wurde die Frau zum Tode verurteilt und bald darauf enthauptet.

Ganzen Generationen von Ostdeutschen wurde der Fall als vermeintlicher Beweis für den faschistischen Charakter der Erhebung präsentiert. Der Schriftsteller Stephan Hermlin verewigte ihn in einer eigenen Erzählung. Darin fabulierte er über die angeblichen Gedanken der hingerichteten Frau: „Eine Sekunde lang dachte sie sich eine ganz unendliche Zukunft, erfüllt von Aufmärschen, Sondermeldungen, brüllenden, jubelnden Lautsprechern. […] Dann sah sie wieder den Appellplatz vor sich und eine gesichtslose Masse in gestreiften Lumpen bis zum Horizont. […] Dann war sie in Gedanken wieder in Ravensbrück, wie sie die Hunde rief und Häftlinge in die Latrinen trieb: ‚Faß, Thilo! Faß, Teut!‘“

„Faß, Thilo! Faß, Teut!“- Der Schriftsteller Stephan Hermlin (l.) auf der Arbeiterkonferenz der Schriftsteller 1952 (4)

Unter der Überschrift „Für Faschisten darf es keine Gnade geben” meldete sich auch Brecht noch einmal im Neuen Deutschland zu Wort. Weil sein Brief an Ulbricht mehrere westdeutsche Theater dazu veranlasst hatte, seine Stücke abzusetzen, versuchte er, sich vor seinen Anhängern zu rechtfertigen. Entsprechend der damaligen Linie der SED, zwischen „Provokateuren“ und „irregeleiteten Arbeitern“ zu unterscheiden, schrieb er: „Ich habe am Morgen des 17. Juni, als es klar wurde, dass die Demonstrationen der Arbeiter zu kriegerischen Zwecken missbraucht wurden, meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ausgedrückt. Ich hoffe jetzt, dass die Provokateure isoliert und ihre Verbindungsnetze zerstört werden, die Arbeiter aber, die in berechtigter Unzufriedenheit demonstriert haben, nicht mit den Provokateuren auf eine Stufe gestellt werden“.

Von „berechtigter Unzufriedenheit“ war in der DDR schon bald keine Rede mehr. Über 1500 Aufständische wurden zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilt. Weder Brecht noch irgendein anderer prominenter Intellektueller bemühten sich um ihre Freilassung. Im Gegenteil: Der Chef des DDR-Schriftstellerverbandes, Kurt Barthel, echauffierte sich im Neuen Deutschland über die Bauarbeiter der Stalinallee: „Schämt ihr euch so, wie ich mich schäme? Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird. Zerstörte Häuser reparieren, das ist leicht. Zerstörtes Vertrauen wiederaufrichten ist sehr, sehr schwer.”

„Schämt ihr euch so, wie ich mich schäme?“ – Der Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes Kurt Barthel 1952 (5)

So viel Apologetik war selbst Brecht zu viel. In seinem Haus am idyllischen Schermützelsee schrieb er sein berühmtes Gedicht „Die Lösung“. Darin hieß es: „Wäre es da/Nicht doch einfacher, die Regierung/Löste das Volk auf und/Wählte ein anderes?“ Das Gedicht behielt Brecht allerdings lieber in der Schublade, schließlich hatte ihm die SED gerade ein eigenes Theater versprochen. 1954 bekam er sogar den Stalin-Preis zugesprochen. Erst nach seinem Tode fand sich das Gedicht in seinem Nachlass.

Bis zum Ende der SED-Diktatur stigmatisierten die kommunistischen Machthaber den Aufstand am 17. Juni als westlichen „Putschversuch“. Ausgerechnet jene Intellektuellen, die vorgaben, für die Interessen der Arbeiterklasse zu kämpfen, hatten sich wortreich an der Verunglimpfung der Proteste beteiligt. Erst die Öffnung der Archive von Polizei und Staatssicherheitsdienst erbrachte den Beweis, dass es ganz normale Bürger waren, die vor 70 Jahren in der DDR auf die Straße gingen.

Lesetipp: Hubertus Knabe, 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, Langen Müller Verlag.

Bildnachweis
(1) Bundesarchiv, Bild 183-19204-2132 / CC-BY-SA 3.0
(2) Bundesarchiv, BStU, MfS_BV_Erfurt_AU_160-53_Bd_2_76-7_B7BB60FF0F774403942CE241DB486646
(3) Bundesarchiv, Bild 183-20355-0006 / Braun / CC-BY-SA 3.0
(4) Bundesarchiv, Bild 183-13756-0002 / Gielow / CC-BY-SA 3.0
(5) Bundesarchiv, Bild 183-14811-0006 / Gielow / CC-BY-SA 3.0

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