Die deutsche Kulturrevolution

Sollen wegen "antisemitischer Bezüge" umbenannt werden - Berliner Straßenschilder, die an Opern Richard Wagners erinnern

In Berlin sollen laut einem vom Senat veröffentlichten Papier über 100 Straßen umbenannt werden. Der Grund: Sie hätten einen antisemitischen Bezug. Unter den Namensgebern sind so bekannte Persönlichkeiten wie Martin Luther oder Richard Wagner. Der Hang zur Umschreibung der Geschichte erinnert an totalitäre Regime.

Von Hubertus Knabe

In George Orwells Roman „1984“ geht die Hauptfigur einer seltsamen Beschäftigung nach: Winston Smith fälscht alte Zeitungsberichte, um sie an die aktuelle Parteilinie anzupassen. „Jedes Buch hat man umgeschrieben, jedes Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal jede Straße und jedes Gebäude umbenannt,“ erklärt er seiner Geliebten. „Die Historie hat aufgehört zu existieren. Es gibt nur eine endlose Gegenwart, in der die Partei immer Recht hat.“

An diesen Umgang mit der Vergangenheit erinnert ein Papier, das die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Diskriminierung unlängst vorgelegt hat. Im Auftrag des Antisemitismus-Beauftragten Samuel Salzborn fertigte der Freie Journalist und Politikwissenschaftler  Felix Sassmannshausen ein 340 Seiten langes „Dossier“ über „Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen“ in Berlin. Bei 101 Straßen empfiehlt er eine Umbenennung, die meisten anderen sollen eine Erläuterung erhalten.

Kein Wagner, kein Luther

Aus dem Berliner Stadtbild getilgt werden soll zum Beispiel alles, was an den Komponisten Richard Wagner erinnert. Nicht nur der nach ihm benannte Platz soll umbenannt werden. Verschwinden sollen auch der seiner Frau gewidmete Cosimaplatz sowie sechs weitere Straßen, die auf seine Opern und sein Wohnhaus Bezug nehmen. Die knappe Begründung dafür lautet: „Wagner war überzeugter Antisemit und Verfasser der antisemitischen Schrift ‚Das Judenthum in der Musik‘ (1850). Werk und Weltbild lassen sich u.a. deshalb nicht trennen.“

„Werk und Weltbild lassen sich nicht trennen“ – Büste des Komponisten Richard Wagner im Festspielpark Bayreuth (1)

Ausradiert werden soll auch der Vater des deutschen Protestantismus, Martin Luther. Dieser „verfasste antijüdische Schriften und war prägend für die weite Verbreitung des christlich motivierten Antijudaismus“, lautet das Verdikt. Auch seine Frau Katharina von Bora muss deshalb weichen. Verschwinden sollen zudem die Straßenschilder, die an die Theologen Otto Dibelius, Christian Carl Bodelschwingh und Martin Niemöller erinnern.

Ähnlich rigoros geht das Papier – das den Steuerzahler rund 7500 Euro gekostet hat – mit dem Erbe Preußens um. Umbenannt werden soll zum Beispiel alles, was an Kaiser oder Kronprinzen erinnert. Auch an die einst beliebte, sozial engagierte Kronprinzessin Cecilie darf nicht mehr erinnert werden. Zur Auswechslung empfohlen werden außerdem alle Straßennamen, die dem Turnpädagogen Friedrich Ludwig Jahn, dem Unternehmer Henry Ford oder dem Piloten Charles Lindbergh gewidmet sind.

Nach Meinung des Verfassers des Papiers sind Umbenennungen aber nur „ein Element in einem größeren Instrumentenkasten“. In über 100 weiteren Fällen – von Konrad Adenauer über Thomas Mann bis zu Alfred Nobel – sollen die Straßenschilder „kontextualisiert“ werden. Selbst der hingerichtete Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg bleibt nicht davon verschont, weil es „Hinweise auf antisemitische Ressentiments in seinem Denken“ gebe. Nur Karl Marx, der in seiner Schrift „Zur Judenfrage“ zahlreiche antisemitische Stereotype verwendete, fehlt in der Liste.

„Hinweise auf antisemitische Ressentiments“ – Schenk Graf von Stauffenberg (l.) bei Adolf Hitler am 15. Juli 1944 (2)

Perfide ist auch die Einreihung des DDR-Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs in den Kreis angeblicher Antisemiten. Fuchs war unter anderem deshalb mit dem SED-Regime in Konflikt geraten, weil ihm das Buch „LTI“ des deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftlers Victor Klemperer „die Augen geöffnet“ hatte für Parallelen zwischen der Staatssprache der DDR und des Nationalsozialismus, wie sein Biograf Udo Scheer schreibt. Nach neunmonatiger Haft und Abschiebung in den Westen starb er im Alter von 48 Jahren an Blutkrebs. In seinem letzten Roman „Magdalena“ schildert er seinen Verdacht, dass ihn der Staatssicherheitsdienst durch radioaktive Strahlen vergiftet hätte. In Berlin bekam er ein Ehrengrab. In dem Dossier wird Fuchs vorgeworfen, dass er im Zusammenhang mit der Stasi einmal von einem „Auschwitz in den Seelen“ sprach, womit er „implizit die Shoah relativiert“ hätte.

Umbenennungen wie in totalitären Regimen

Das vom Berliner Senat veröffentlichte Papier ordnet sich ein in ähnliche Bestrebungen in anderen deutschen Städten. Während es anfangs nur um belastete Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus ging, geriet in den letzten Jahren auch der Kolonialismus in den Fokus. Mittlerweile richtet sich der Bannstrahl auch gegen diejenigen, die des Rassismus oder Antisemitismus verdächtigt werden. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, dass auch Monarchisten oder Gegner der Frauenemanzipation auf den Index geraten.

Ein solches Vorgehen kennzeichnete bisher vor allem totalitäre Regime. So ließen die Nationalsozialisten, als sie an die Macht kamen, systematisch sozialistische und jüdische Namen aus dem Straßenbild tilgen. Auch in der DDR ordnete die SED flächendeckende Umbenennungen an. Der jüdische Intendant der Komischen Oper Barrie Kosky kommentierte denn auch das Papier mit den Worten: „Wir haben im 20. Jahrhundert genug von deutschen Listen gesehen.“

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Auch die Methodik des Papiers erinnert an dunkle Zeiten. Anders als bei vergleichbaren Studien handelt es sich nicht um ein wissenschaftliches Gutachten, das bewusst auf Handlungsempfehlungen verzichtet. Vielmehr werden oftmals private Äußerungen und vage Verdächtigungen herangezogen, um dann auf dieser Basis ein vernichtendes Urteil zu fällen. Manchmal stimmen nicht einmal die Fakten – wie die Behauptung, die beiden ersten Strophen des Deutschlandliedes seien „aufgrund ihres aggressiven Nationalismus und revanchistischen Gehalts“ verboten worden. Ihr Verfasser, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, findet sich ebenfalls auf der Liste.

„Aufgrund ihres aggressiven Nationalismus verboten“ – Grab August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben in Höxter (3)

Um zu sehen, wohin der Angriff auf das kulturelle Gedächtnis einer Nation führen kann, braucht man keine Romane zu lesen. Es reicht ein Blick auf die Wirklichkeit. Ob die Bücherverbrennungen im Nationalsozialismus, ob die massenhafte Zerstörung von Kulturschätzen während der Kulturrevolution in China, ob die Sprengung der Palmyra-Tempel durch den Islamischen Staat – die anmaßende Vorstellung, besser zu sein als die eigenen Vorfahren, führte fast immer ins Verderben.

Der Text erschien zuerst in: Die Welt vom 14. Januar 2022 und Weltonline vom 15. Januar 2022. Aktualisiert und erweitert am 22.01.2022.

Bildnachweis
(1) Schubbay / CC BY-SA 3.0
(2) Bundesarchiv, Bild 146-1984-079-02 / CC BY-SA 3.0 DE (Ausschnitt)
(3) Kliojünger / CC BY-SA 3.0

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