Aus der Geschichte lernen – dieser Anspruch gehört in Deutschland zur Staatsräson. In der politischen Praxis werden historische Erfahrungen allerdings nur selten berücksichtigt. Das zeigt die aktuelle Energiepolitik. Die Subventionierung von Strom und Gas in der DDR trug mit zu deren Untergang bei.
Von Hubertus Knabe
Wer es gewohnt ist, in der Nacht am Schreibtisch zu sitzen, hat in Berlin in diesem Winter schlechte Karten. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften haben beschlossen, in ihren mehr als 300.000 Wohnungen die Heiztemperaturen nachts bei 17 Grad zu deckeln. Auch die großen Wohnungsunternehmen Vonovia und Deutsche Wohnen wollen die Raumtemperatur von 23 bis 6 Uhr auf 17 Grad absenken. Wer spät nach Hause kommt oder nachts nicht schlafen kann, muss in den kommenden Monaten frieren.
Im Zeichen des Ukraine-Krieges nimmt die Entmündigung des Bürgers neue Dimensionen an. Selbst auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie konnte man zumindest in den eigenen vier Wänden selbst entscheiden, wie man die Nacht verbringt. Doch was 2020 mit restriktiven Vorschriften und flächendeckenden Plakatkampagnen begann, droht nun in der Energiepolitik eine Steigerung zu finden. Politiker und Beamte verstehen sich offenbar immer häufiger als Vormund der Bürger.
Die Restriktionen, die auch eine Absenkung der Raumtemperaturen am Tage in Wohnungen (20 Grad) und öffentlichen Gebäuden (19 Grad) umfassen, werden durch Sparappelle führender Politiker flankiert. „Wir müssen die Gasverbräuche nach wie vor runterbringen,“ erklärte Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen. „20 Prozent sind für Deutschland Zielmarke.“
Auch Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann forderte die Bürger auf, wegen des Krieges in der Ukraine weniger Energie zu verbrauchen. Bereits im August erklärte er, man müsse nicht dauernd duschen, denn auch der Waschlappen sei eine „brauchbare Erfindung“. Im Rahmen einer mehrere Hunderttausend Euro teuren Kampagne „Cleverländ – Zusammen Energie sparen“ machten er und sein Koalitionspartner Thomas Strobl (CDU) dann in Videos vor, wie man abends die Heizung herunter dreht oder Standby-Geräte von der Stromversorgung trennt. So direkt hatten Politiker bisher noch nie in das Privatleben der Bürger hineinzuwirken versucht.
Hatte Kretschmann schon mit seinem Waschlappen-Plädoyer viel Spott geerntet, gab es auf die Videos noch viel mehr hämische Kommentare. „Jedes Mal, wenn man denkt, dass es nicht peinlicher werden kann, schafft ihr es, uns vom Gegenteil zu überzeugen!,“ schrieb ein User bei Youtube. Und ein anderer meinte: „Wenn die herrschende, wohlgenährte und vom Volk losgelöste Klasse Praxistipps gibt, ist der ungewollte Humorfaktor wirklich das einzig Positive.“
Energiesparen im Krieg
Die Vorschriften und Appelle zum Energiesparen wecken Erinnerungen an vergangene Zeiten. Schon während des Ersten Weltkriegs ordnete der Staat massive Eingriffe in das Alltagsleben an, um Energie und Rohstoffe einzusparen. Wegen der Gas- und Stromknappheit wurde zum Beispiel in der Habsburger-Monarchie die Straßenbeleuchtung reduziert; Leuchtreklamen waren ebenso wenig zugelassen wie die Außenbeleuchtung von Hotels, Cafés und Theatern. Auch im Inneren der Gebäude mussten elektrische Lampen auf maximal 60 Watt reduziert werden, geheizt werden durfte erst ab dem 15. Oktober. In der Hauptstadt Deutschlands werden derzeit rund 150 öffentliche Gebäude und Wahrzeichen nachts nicht mehr angestrahlt.
Auch im Zweiten Weltkrieg blieben die Straßen dunkel. Um Bombenangriffe zu erschweren, wurde die Straßenbeleuchtung 1939 eingestellt. Im weiteren Verlauf des Krieges gewann die Energieeinsparung immer mehr an Bedeutung. Zu diesem Zweck gründeten die Nationalsozialisten 1942 sogar eine eigene Propagandaabteilung. Auf Plakaten konnte man zum Beispiel lesen: „Der Bergmann mahnt Euch an die Pflicht: Spart mit Kraftstrom, Gas und Licht / Spart Kohle!“.
Um die Botschaft besser unters Volk zu bringen, druckten die Zeitungen Geschichten vom „Kohlenklau“ – ein böswilliger Energieverschwender, der gemeinsam bekämpft werden sollte. „Überall, wo wertvolle Kohle, Strom und Gas vergeudet werden, hat Kohlenklau seine Hände im Spiel!“, hieß es zum Auftakt der Kampagne. „Er nützt unsere kleinste Gedankenlosigkeit und Nachlässigkeit für sein kriegsverbrecherisches Treiben aus.“
Liest man die damals erschienenen Texte, ist man erstaunt, wie sehr sie den heutigen Aufforderungen zum Energiesparen ähneln. „Es zieht kalt ins warme Zimmer. Im leeren Zimmer brennt Licht. Das Radio spielt ohne Zuhörer. Der falsch geheizte Ofen wärmt schlecht“, wurde dort zum Beispiel angeprangert. Auch die Appelle an das Gemeinschaftsgefühl klangen ähnlich: „Du und ich und wir alle tun uns jetzt zusammen, und es wäre doch gelacht, wenn wir den Burschen nichts aufs Kreuz legen.“
Die Kampagne der Nationalsozialisten umfasste nicht nur Zeitungsartikel, sondern auch Plakate, Filme und Spiele. So ließen sie mitten im Krieg vier Millionen Exemplare eines Brettspieles mit dem Namen „Jagd auf Kohlenklau“ produzieren. In der Anleitung hieß es: „Der ‚Kohlenklau‘ ist ein Bösewicht, der dem deutschen Volke schaden will. Er verschafft sich in jedem Haushalt Zutritt und versucht Kohle, das heißt Wärme, Licht und Kraftstrom und auch Gas zu stehlen, also Dinge, die nicht nur der Haushalt, sondern auch unsere Rüstung dringend benötigt. Er geht dabei sehr schlau vor und versteht es, sich meisterhaft zu tarnen, ihr sollt ihn nun aufspüren und verjagen.“
Plakat zur Kohlenklau-Kampagne im Nationalsozialismus
Gaspreisbremse in der DDR
Was im Nationalsozialismus der „Kohlenklau“ war, hieß in der DDR der „Wattfraß“. Das kleine schwarze Teufelchen, dessen Schwanz in einem Stecker endete, sollte Kinder und Jugendliche seit Ende der 1950-er Jahre zum Energiesparen mobilisieren. Zu diesem Zweck erschienen in den von der FDJ herausgegebenen Zeitschriften regelmäßig einschlägige Comic-Zeichnungen.
Auf einer sieht man den Kobold zum Beispiel unter der Überschrift: „Kennt Ihr ihn noch?“ Darunter heißt es: „Jawohl, es ist Wattfraß. Er kommt in den Wintermonaten und will unserer Industrie den Strom wegfressen.“ Unter den Namen der Wintermonate mit verschiedenen abendlichen Uhrzeiten steht: „Helft wieder alle mit, besonders in der angegebenen Stunde, nur wenig Strom zu verbrauchen. Durch Eure Hilfe konnten vergangenes Jahr zusätzlich Millionenwerte produziert werden. Jagt ihn! Es lohnt sich!“
Auf einer weiteren Zeichnung ist eine Art Demonstration zu sehen. Der Kobold hängt aufgespießt auf einem Dreizack, dahinter trägt ein Junge ein Plakat mit der Aufschrift „Nieder mit Wattfrass“. Andere Kinder führen ein Bügeleisen, einen Tauchsieder und weitere Haushaltsgeräte mit sich, während auf einem quer gespannten Transparent steht: „Benutzt uns nicht von 17 bis 18 Uhr!!!“. Um die Bürger zum Energiesparen zu animieren, gab es in der DDR in den 1980-er Jahren sogar eine eigene Fernsehsendung mit dem Titel: „Gewusst wie, spart Energie“.
Den Kampagnen zum Trotz gehörte die DDR dennoch zu den größten Energieverbrauchern der Welt. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 7,8 Tonnen Steinkohleeinheiten benötigte sie zuletzt rund zwanzig Prozent mehr als die weit stärker industrialisierte Bundesrepublik. Der Endenergieverbrauch in der DDR stieg zwischen 1973 und 1987 sogar um 27 Prozent, während er sich in Westdeutschland im selben Zeitraum nur unwesentlich veränderte.
Und das führt zu einer weiteren Lehre aus der Geschichte: Hauptursache des hohen Energieverbrauchs in der DDR war, dass es keinen finanziellen Anreiz zum Sparen gab – denn im Sozialismus galt bereits seit 1946 eine Strom- und Gaspreisbremse. Trotz steigender Kosten und Löhne blieben die Energiepreise jahrzehntelang eingefroren: bei acht Pfennig pro Kilowattstunde Strom (in Berlin derzeit 33,12 Cent) und bei 16 Pfennig pro Kubikmeter Stadtgas (in Berlin derzeit 1,28 Euro für Erdgas). Dadurch wurden in der DDR immer höhere Subventionen erforderlich, die am Ende etwa ein Sechstel der Wirtschaftsleistung betrugen. Allein die privaten Heizkosten subventionierte der Staat mit 100 bis 200 Mark pro Monat und Wohnung.
Schaut man auf die milliardenschweren Entlastungspakete der Bundesregierung, scheint sich auch diese Politik derzeit zu wiederholen. Nach der vorübergehenden Absenkung der Nahverkehrspreise auf neun Euro pro Monat und der Auszahlung einer sogenannten Energiepreispauschale will die Ampel-Koalition jetzt die Strom- und Gaspreise massiv subventionieren. So soll der Staat im Dezember die komplette Abschlagszahlung für Gas und Fernwärme übernehmen. Ab Frühjahr soll dann nur noch für 20 Prozent des Verbrauchs der Marktpreis fällig werden. Finanziert werden soll die sogenannte Gaspreisbremse aus zusätzlichen Krediten von bis zu 200 Milliarden Euro – im Klartext: auf Kosten derjenigen, die diese später abzahlen müssen.
Der Staat als Volkserzieher
Als die DDR 1989 kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stand, veröffentlichte der ostdeutsche Rechtsanwalt Rolf Henrich ein Buch mit dem Titel „Der vormundschaftliche Staat“. Er analysierte darin die Ursachen für die permanenten Eingriffe der Politbürokraten in Wirtschaft und Gesellschaft und forderte die Bürger dazu auf, sich nicht länger als Opfer zu betrachten, sondern sich zur Wehr zu setzen. Ein halbes Jahr später wurde die SED-Diktatur gestürzt.
In seinem Buch beschrieb Henrich auch, wie sich das Land nach der Entmachtung der SED verändern würde: „Aus der (ständig wachsenden) Rolle des Volkserziehers und Wirtschaftsorganisators wechselt der Staat dann zwangsläufig in die eher schon wieder liebenswürdige Rolle des bloßen ‚Wächters‘, der nach innen die demokratischen Formen garantiert, in denen sich Menschen unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Gruppierungen zueinander ins Verhältnis setzen.“ Auch „die Wirtschaft könnte endlich wieder ihrem eigenen Takt folgen, brauchte sich also nicht mehr weiter um die jeder Planmäßigkeit den Boden entziehenden Sonder- und Prestigevorhaben der politischen Klasse zu kümmern.“
Auch diese Vision wirkt heute erstaunlich aktuell.
Bildnachweis
(1) © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0
(2) Filip Maljković aus Pancevo, Serbien / CC BY-SA 2.0