Die lange Blutspur des Kremls

Tote ohne Grabstein - Provisorischer Friedhof in Isjum im Osten der Ukraine am 16. September 2022 (1)

Nach der Rückeroberung der Region Charkow durch ukrainische Truppen wurden mehrere Folterkeller und eine Grabstätte mit mehreren Hundert Leichen gefunden. Kriegsverbrechen wie diese haben in Russland eine lange Tradition. Doch anders als die Massenmorde der Wehrmacht wurden sie niemals aufgearbeitet.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Die Bilder erinnern an die Massengräber aus der Stalin-Zeit: Schlichte selbstgefertigte Holzkreuze weisen zwischen hochgewachsenen Bäumen darauf hin, dass hier Tote begraben liegen. Nur an den frisch aufgeschütteten Sandhügeln erkennt man, dass die Leichen erst vor Kurzem bestattet wurden. In dem Waldstück bei Isjum, das ukrainische Truppen am 10. September zurückeroberten, wurden insgesamt 436 Leichen gefunden, von denen 30 Folterspuren aufwiesen. Die Mehrzahl der Toten waren Zivilisten, die eines gewaltsamen Todes starben.

Die Gräber von Isjum haben der Welt erneut vor Augen geführt, wie brutal die russische Besatzungsmacht in der Ukraine vorgeht. Für viele stellt sich einmal mehr die Frage: Woher kommt die Bereitschaft so vieler russischer Soldaten, schlimmste Gräueltaten an Zivilisten zu begehen?

Beobachter haben darauf hingewiesen, dass Gewalt in Russland zum Alltag gehöre, auch und gerade in den Familien. Viel wichtiger ist jedoch, dass Folter, Vergewaltigungen und Erschießungen im russischen Militär eine lange Tradition haben, die niemals aufgearbeitet wurde. Während die Bundeswehr sich in einem schmerzhaften Prozess vom Erbe der Wehrmacht gelöst hat, verklärt die russische Armee ihre gewalttätige Vergangenheit bis heute.

Seit dem Putsch der Bolschewiki im Oktober 1917 wurde das willkürliche Töten in Russland zu einem Instrument staatlicher Politik. Ein Dekret der Sowjetregierung vom September 1918 bezeichnete es als „absolut lebensnotwendig“, jeden, der „in Verschwörungen, Aufstände und Erhebungen verwickelt ist, auf der Stelle zu erschießen.“ Bis zu 200.000 Menschen sollen damals liquidiert worden sein.

„Auf der Stelle zu erschießen“ – Plakat zur Beerdigung des ermordeten Petrograder Tscheka-Chefs im September 1918 (Aufschrift: „Tod den Bourgeois und ihren Helfern. Es lebe der Rote Terror“)

Mit gnadenloser Gewalt annektierte das junge Sowjetrussland auch zahlreiche Nachbarländer. Aufstände in der Ukraine und in Georgien wurden brutal niedergeworfen. Während des russischen Bürgerkrieges starben bis 1922 etwa acht bis zehn Millionen Menschen, zum überwiegenden Teil Zivilisten. Obwohl der Chef der Roten Armee, Leo Trotzki, wenig später in Ungnade fiel, wurde keiner der Verantwortlichen jemals zur Rechenschaft gezogen.

Terror als Prinzip der Politik

Unter Stalin wurde der Terror zum zentralen Prinzip der Politik – und zwar nicht nur im Inneren. Im Bündnis mit Hitler fiel die Sowjetunion im September 1939 in Ostpolen ein, wo sie schwerste Kriegsverbrechen beging. Allein beim Massaker von Katyn wurden mehr als 4000 Kriegsgefangene erschossen. In weiteren Mordaktionen wurden Tausende Reserveoffiziere, Polizisten und Intellektuelle liquidiert; über 300.000 polnische Staatsbürger wurden deportiert. Nicht viel anders verlief die Angliederung des Baltikums und Bessarabiens.

Auch für diese Gräueltaten wurde kein einziger Beteiligter zur Verantwortung gezogen. Bis 1990 behauptete der Kreml vielmehr, dass deutsche Besatzungstruppen die Massaker bei Katyn begangen hätten. Erst unter Michail Gorbatschow drückte die Sowjetunion ihr Bedauern über die „Tragödie“ aus. Ein Strafverfahren, das die Staatsanwaltschaft der Region Charkiw gegen mehrere NKWD-Offiziere einleitete und das die Moskauer Militärstaatsanwaltschaft an sich zog, wurde nach vierzehn Jahre eingestellt. Der schwer belastete Leiter der Abteilung für Kriegsgefangene, Pjotr Soprunenko, starb 1992 unbehelligt in Moskau.

Strafverfahren eingestellt – Leichen polnischer Offiziere, die 1940 auf Stalins Befehl bei Katyn ermordet worden waren

Im Juni 2020 macht Wladimir Putin Polen sogar mitverantwortlich für sein Schicksal, weil es sich 1938 an der Aufteilung der Tschechoslowakei beteiligt hätte. In einem Aufsatz schrieb er unter anderem: „Die darauffolgende Tragödie Polens liegt voll und ganz auf dem Gewissen der damaligen polnischen Führung.“ Über die Annexion des Baltikums behauptete er, dass diese „auf vertraglicher Basis, mit Zustimmung der gewählten Behörden“ erfolgt wäre.

Zu zahllosen Gräueltaten kam es auch im Zuge des Vormarsches der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges. Hauptbetroffene waren diesmal deutsche Zivilisten, aber auch die Bewohner des Baltikums und weiterer Länder. Vor allem in den deutschen Ostgebieten begingen sowjetische Soldaten massenhaft Vergewaltigungen und Erschießungen. Doch auch in der sowjetischen Besatzungszone verübten sie schreckliche Kriegsverbrechen. Zu den Opfern gehörte unter anderem die Frau des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl, die im Alter von zwölf Jahren mehrfach vergewaltigt und anschließend ihren Angaben zufolge „wie ein Zementsack“ aus dem Fenster geworfen wurde, so dass sie eine lebenslange schwere Rückenverletzung davontrug.

Die Taten waren keine spontanen Racheaktionen, sondern erfolgten mit Zustimmung der sowjetischen Führung. So befahl der Kommandeur der 3. Weißrussischen Front seinen Soldaten vor dem Angriff auf Ostpreußen: „Gnade gibt es nicht – für niemanden, wie es auch für uns keine Gnade gegeben hat. Das Land der Faschisten muss zur Wüste werden.“ Und das Staatliche Verteidigungskomitee beschloss: „Durch gnadenlose Liquidierung an Ort und Stelle ist schonungslos mit Personen abzurechnen, die terroristischer Diversionsakte überführt sind.“ Als ein solcher Akt galt es zum Beispiel, wenn jemand telefonierte oder Radio hörte.

„Gnade für niemanden“ – Foto, das Frauen in Berlin zeigen soll, die nach ihrer Vergewaltigung Selbstmord begingen (2)

Für die sowjetischen Kriegsverbrechen in Deutschland wurden nur selten jemand zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: Wie der Germanist Lew Kopelew in seiner Autobiografie „Aufbewahren für alle Zeit!“ berichtet, wurde er von seinen Vorgesetzten mehrfach belehrt, dass es nicht seine Aufgabe sei, Marodeuren Einhalt zu gebieten. Im April 1945 wurde er sogar verhaftet und wegen „Propagierung des bürgerlichen Humanismus“ und „Mitleid mit dem Feind“ zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt.

Verdrängte Kriegsverbrechen

Während in Russland die stalinistischen Verfolgungen im Inneren kein Tabu mehr sind, werden die Kriegsverbrechen der Roten Armee bis heute verdrängt. Für die meisten Russen beginnt der Zweite Weltkrieg erst im Jahr 1941, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Die unter Putin massiv geförderte Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ kultiviert ein pathetisches Narrativ, in dem die Russen stets Opfer und Helden sind, aber niemals Täter. Das stalinistische Ehrenmal in Berlin, das einen Rotarmisten mit einem Kind im Arm zeigt, versinnbildlicht dies bis heute.  

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Ein solcher Umgang mit der Vergangenheit wäre in Deutschland undenkbar. Schon vor mehr als 20 Jahren haben zwei Wanderausstellungen die Verbrechen der Wehrmacht einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Auch im Traditionserlass der Bundeswehr heißt es klipp und klar: „Für die Streitkräfte eines demokratischen Rechtsstaates ist die Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig.“

In Russland wird der Gründungstag der Roten Armee dagegen bis heute als arbeitsfreier „Tag des Verteidigers des Vaterlandes“ gefeiert. In vielen Städten finden Festveranstaltungen und Paraden statt, die Spitzen des Staates legen an der Kreml-Mauer Kränze nieder. Auch im riesigen Moskauer Streitkräftemuseum wird eine direkte Linie von den Anfängen der Roten Armee bis in die Gegenwart gezogen. Unter dem dort ausgestellten Siegesbanner, das am 1. Mai 1945 auf dem Berliner Reichstag gehisst worden war und offiziell den Sieg der Sowjetunion über Hitler-Deutschland symbolisiert, mussten Kinder kürzlich sogar Briefe an russische Soldaten verfassen, die „ihre Pflicht in der Ukraine erfüllen.“

Festveranstaltungen und Paraden – Kinder bei einer Solidaritätsaktion für russische Soldaten im Streitkräftemuseum (Oben: Siegesbanner der Roten Armee, links: grüner Feldpost-Briefkasten des russischen Verteidigungsministeriums)

Doch auch in Deutschland wird über die mehr als 100 Jahre alte Blutspur des Kremls nur selten gesprochen. Aus Scham über die Verbrechen der Wehrmacht werden die der Roten Armee relativiert oder verschwiegen. Auch das von der Bundesregierung geplante Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa spart das Thema aus. Der Vizechef des Moskauer Streitkräftemuseum ist sogar immer noch Vorstand des Berliner Kapitulationsmuseums. Dabei zeigen die Mordtaten in der Ukraine: Wer über die Verbrechen von gestern schweigt, trägt mit dazu bei, dass sie sich heute und morgen wiederholen.

Bildnachweis
(1) Світлана кирган / арміяInform / CC BY 4.0
(2) https://twitter.com/_henk_heijmans/status/1173531496398954496

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