Die Totenschädel der Khmers Rouges

Totenschädel aus den kambodschanischen "Killing Fields" - heute eine Gedenkstätte
Totenschädel aus den kambodschanischen "Killing Fields" - heute eine Gedenkstätte

Drei Jahre, acht Monate und 21 Tage herrschten in Kambodscha die Roten Khmer – wie sich die kommunistische Partei in Kambodscha nannte. Unter ihrem Führer Pol Pot errichteten sie 1975 ein Regime, dem ein Viertel der Bevölkerung zum Opfer fiel. Das Land zwischen Thailand und Vietnam tut sich bis heute schwer im Umgang mit seiner blutigen Vergangenheit.

Von Hubertus Knabe

Es dauert lange, ehe man sich aus der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh durch den chaotischen Verkehrsstrom aus verbeulten Fahrrädern, knatternden Mopeds, orangefarbenen Tuktuks (eine Art motorisierte Rikscha) sowie nagelneuen japanischen Geländewagen heraus gekämpft hat. Irgendwann lässt der Pulsschlag der asiatisch wuselnden Stadt langsam nach, die improvisierten Bratstände und Verkaufsstellen am Straßenrand werden seltener, ein paar graue Mauern schmutziger Gewerbegebiete ziehen noch vorüber, bis schließlich der erste Wasserbüffel mit seinen geschwungen Hörnern auftaucht und rechts und links der Straße das flache, von Wasser durchtränkte Grün der Reisfelder und Obstplantagen beginnt. Hier, in dieser tropischen Idylle, befindet sich die weltweit größte Ansammlung von Schädeln und Knochen ermordeter Menschen, gestapelt in einem Turm mit 17 Etagen, so hoch, dass die Spitze im gleißenden Licht der Sonne verschwimmt.

Das Bauwerk, ein sogenannter Stupa, ist das Zentrum der Gedenkstätte Choeung Ek. Hier sind die sterblichen Überreste der Opfer des Pol-Pot-Regimes aufgebahrt, das, gemessen an der Länge seiner Existenz und der Größe der Bevölkerung, so viele Menschen wie kein anderer kommunistischer Staat auf dem Gewissen hat. Allein an dieser Stelle wurden Ende der 1970er Jahre schätzungsweise 20 000 Menschen mit Äxten, Stangen oder Dreschflegeln erschlagen und anschließend in Massengräbern verscharrt – den Killing Fields, wie die Gedenkstätte in den Reiseführern der Welt genannt wird.

Bruder Nummer 1

40 Jahre ist es her, dass das Regime der Khmers Rouges, wie man in der einstigen französischen Kolonie die Bewegung um den Kommunistenführer Pol Pot nennt, von vietnamesischen Truppen beseitigt wurde. Am 7. Januar 1979 eroberten sie Phnom Penh. Drei Jahre, acht Monate und 21 Tage hatte der ehemalige Lehrer, der sich als „Bruder Nummer 1“ bezeichnen ließ, seine Vision einer kommunistischen Agrargesellschaft zu verwirklichen versucht – und dabei ein ebenso bizarres wie mörderisches System errichtet. Fast jeder Kambodschaner, den man trifft, kann von Opfern in seiner Familie oder von eigenen Leidenserfahrungen aus dieser Zeit berichten. Einer Studie zufolge sind 20 Prozent der über 30jährigen so traumatisiert, dass sie eigentlich arbeitsunfähig sind.

Bruder Nr. 1 – Büsten des Kommunistenführers Pol Pot

Der Horror begann im April 1975, als die Roten Khmer in Phnom Penh einmarschierten. Weil Pol Pot der Meinung war, die Städte seien ein Hort des „Parasitismus“, ließ er sie ausnahmslos evakuieren. In langen, entbehrungsreichen Märschen wurden die Stadtbewohner aufs Land deportiert, wo sie als sogenanntes neues Volk bei minimaler Verpflegung zur „Läuterung“ Zwangsarbeit leisten mussten. Nur die Kräftigsten haben diesen kambodschanischen Gulag überlebt.

Auch das „alte Volk“, die Landbevölkerung, hatte bald unter dem Regime zu leiden. Im „Demokratischen Kampuchea“, wie sich Kambodscha nun nannte, wurden sämtliche Produktionsmittel verstaatlicht, was in einem Land ohne Industrie vor allem Reisfelder, Pflüge und Ochsen bedeutete. Die Ernte ging nun an „Angka“ (die Organisation), wie sich die Kommunistische Partei geheimnisvoll nannte und die sie nach eigenem Gutdünken verteilte. Die Kollektivwirtschaft führte jedoch nicht, wie die Propaganda verkündete, zum „Großen Sprung“, sondern zu einem drastischen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und zu einer Hungersnot, der zahlreiche Menschen zum Opfer fielen.

Das Gebot der einheitlichen Kost

Die Roten Khmer setzten ihre Ideen mit unnachsichtiger Härte durch. Weil das Gebot der „einheitlichen Kost“ herrschte, galt zum Beispiel der illegale Besitz selbst kleiner Mengen Reis als schweres Vergehen. Auch Streit in der Familie und das Bestrafen von Kindern waren verboten. Bei den regelmäßigen politischen Versammlungen musste man öffentlich Selbstkritik üben, die häufig mit den Worten endete: „Ich demütige mich, so dass Angka mich reinigen, mich kritisieren und erziehen kann, damit ich mich noch besser fügen kann.“ Wer einer Anordnung widersprach, wurde vielfach kurzerhand in den Wald geführt und wegen „Individualismus“ erschlagen. Zehntausende Beamte, Mönche oder Intellektuelle –  auch Brillenträger galten als solche – kamen als „Feinde der Revolution“ in eines der etwa 100 Todeslager, wo sie erst gefoltert und anschließend hingerichtet wurden. Wie viele Menschen diesem Terror zum Opfer fielen, kann wohl nie mehr exakt beziffert werden, Schätzungen gehen von 1,7 bis 2 Millionen Toten aus – fast ein Viertel der Bevölkerung oder 1400 pro Tag. Knapp die Hälfte davon – 800.000 – wurden exekutiert.

Die Gedenkstätte mit den Totenschädeln soll die Erinnerung an diese Zeit wachhalten. Das ist gar nicht so einfach, in einem der ärmsten Länder der Welt, in dem das Durchschnittseinkommen anderthalb Dollar pro Tag beträgt und 45 Prozent der Kinder chronisch unterernährt sind; in dem 30 Prozent der über 14jährigen weder lesen noch schreiben können; in dem seit 1985 ein Ministerpräsident zunehmend autoritär regiert, der früher selber ein Kommandeur der Roten Khmer war, bis er sich zu den Vietnamesen absetzte; in dem eine ehemalige kommunistische Partei, die Kambodschanische Volkspartei, das Land trotz demokratischer Wahlen bis heute quasi allein beherrscht; in dem die Täter nicht für ihre Verbrechen bestraft, sondern von der Regierung zu geachteten Staatsbürgern erklärt und oftmals zu Leitungskadern gemacht wurden, damit sie ihren bewaffneten Widerstand einstellen; ganz zu schweigen von der Wirkung der Zeit, die die Erinnerung an die blutigen Ereignisse langsam, aber sicher verblassen lässt. Wie soll man unter diesen Bedingungen den Kommunismus aufarbeiten?

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Das Zentrum für Völkermordverbrechen, wie sich die Gedenkstätte nennt, versucht dies, indem sie den Besuchern die Geschichte des Ortes erzählt: Dort kamen die Lastwagen mit den Gefangenen an, hier wurden sie in einem primitiven Holzverschlag „zwischengelagert“, an dieser Stelle hingen die Lautsprecher mit den Revolutionsgesängen, die die Schreie der Opfer bei den nächtlichen Exekutionen übertönen sollten. Die Spuren in der Rinde eines Baumes sollen vom Aufprall der Babyköpfe herrühren, die die Roten Khmer dagegen schlugen, ein Stückchen weiter befindet sich ein Massengrab mit kopflosen Skeletten – eine Folge des Propagandaslogans, mit dem das Pol-Pot-Regime seine Feinde als fremd gesteuerte Agenten brandmarkte: „Körper Khmer, Kopf Vietnamese“.

Massengrab mit Hinweisschild für Touristen: „Be quiet – bitte leise“

Zu sehen ist von all dem heute kaum mehr etwas – sieht man von den Zähnen, Knochen und Kleidungsstücken ab, die durch die Regenfälle nach oben getrieben und die von der Gedenkstätte aus Pietätsgründen regelmäßig abgesammelt werden. Die Überbleibsel der Hinrichtungsstätte wurden schon 1979, nach der Vertreibung der Khmers Rouges aus Phnom Penh, von der Bevölkerung weggeschleppt – damals, als in Kambodscha bitterste Armut herrschte, als es keine Krankenhäuser mehr gab und keine Schulen, keine Märkte und keine Geschäfte, kein Geld, keine Ärzte, keine Lehrer, keine Mönche, nichts.

Hinweisschild neben Menschenknochen auf den Killings Fields in Kambodscha: "Don't step on bone - Treten Sie nicht auf Knochen"

Auch die Gruben der Massengräber, die aufgrund ihres Fäulnisgeruchs entdeckt und ausgehoben wurden, werden langsam, aber sicher unkenntlich. Bei den sintflutartigen Regengüssen laufen sie nach und nach mit Schlamm voll, obwohl die Gedenkstätte sie mit Dächern und einem Damm davor zu schützen versucht. Übrig geblieben sind von den Verbrechen der Khmers Rouges nur die mehr als 5000 Schädel, die in dem Turm aufgebahrt sind und auf denen man, wenn man nah genug herantritt, noch heute die Einkerbungen der Schlagwerkzeuge erkennen kann. Wie lange sie noch Zeugnis ablegen werden, weiß niemand. Immerhin hat die Gedenkstätte sie mit Hilfe deutscher Wissenschaftler inzwischen professionell konserviert.

Hinweisschild neben Menschenknochen: „Don’t step on bone – Treten Sie nicht auf Knochen“

Der Erinnerungsort wurde von der Regierung für 15 000 Dollar pro Jahr an ein japanisch-kambodschanisches Unternehmen verpachtet. Für deutsche Verhältnisse mag dies ungewöhnlich anmuten, in einem Land mit desolaten staatlichen Strukturen ist es aber eher ein Garant für mehr Qualität. Die 15 Kilometer außerhalb der Hauptstadt gelegene Gedenkstätte hat jedenfalls rund 250 000 Besucher pro Jahr und ein im Eintrittspreis enthaltener Audioguide erklärt den Ort in zehn Sprachen. Die Firma investiert zudem erhebliche Summen in den Straßenbau sowie in ein Stipendienprogramm für notleidende Studenten – und dennoch können sich manche Kambodschaner nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, dass ein ausländisches Unternehmen Geschäfte mit ihren Toten macht.

Foltergefängnis S 21

Das Gegenstück zur Gedenkstätte Choeung Ek ist das staatliche Tuol-Sleng-Museum in Phnom Penh. Die ehemalige Schule wurde von den Roten Khmern zum Foltergefängnis „S 21“ gemacht. Hier landeten die verdächtigen Elemente aus der Hauptstadt, Lehrer, Intellektuelle, Offiziere, Staatsangestellte, aber auch viele eigene Kämpfer, die als Verräter gebrandmarkt wurden. Auf Hunderten erkennungsdienstlichen Fotos starren sie einen heute mit erschrockenen Augen von den Wänden des Museums an. Nach ihrer Verhaftung, oft mitsamt Familie, wurden sie meist so lange gefoltert, bis sie zugaben, ein Spion von CIA und KGB gewesen zu sein – dann schaffte man sie per LKW zur Hinrichtung nach Choeung Ek. Von den rund 17.000 Häftlingen, die der Gefängnischef penibel erfassen ließ, überlebten gerade einmal sieben.

Stacheldraht gegen Selbstmordversuche – das Foltergefängnis S 21

Die einstige Folterstätte ist eigentlich kein Museum, sondern ein frei begehbares Gefängnis. Gleich links, im ersten Gebäude, schaut man in die ehemaligen Klassenzimmer, in denen nur ein Eisenbett und eine Fußfessel zu sehen ist, mit der die Häftlinge angekettet wurden. Hier hielten die Roten Khmer ihre wichtigsten Gefangenen fest, streng getrennt von den übrigen Inhaftierten. Das zweite Gebäude war für die „normalen“ Häftlinge bestimmt, der verrostete Stacheldraht über der Fassade wurde angebracht, nachdem sich einer von ihnen aus dem dritten Stock herabgestürzt hatte. Die Klassenzimmer, in denen noch die Wandtafeln für den Schulunterricht hängen, sind hier mit mannshohen schiefen Ziegelmauern in etwa zwei Quadratmeter große Zellen aufgeteilt. In diesen primitiven Verschlägen, die mit Metallstreben vor dem Einstürzen gesichert werden müssen, wurden die Häftlinge wie Vieh angekettet – verzweifelt und stumm, da sie während der Haft keinen Laut von sich geben durften.

Im dritten Gebäude sind einige der Folterwerkzeuge ausgestellt, die bei den Verhören zum Einsatz kamen: eine Wanne für das damals schon beliebte Waterboarding, eine diabolische Elektroapparatur, ein Tisch, in dem die Finger eingeklemmt wurden, um den Gefangenen die Nägel zu ziehen. Eine weitere Foltereinrichtung steht auf dem einstigen Schulhof: ein hoher Balken, an dem die Schüler früher an den Ringen turnten und an dem die Roten Khmer die Gefangenen mit nach hinten gebogenen Armen nach oben zogen. Übertroffen wurden diese Grausamkeiten nur noch vom Zynismus der Lagerordnung, deren Regel Nummer 6 lautete: „Es ist verboten, während Auspeitschungen oder Elektroschocks zu weinen“.

Menschen mit erschrockenen Gesichtern – Gefangenenfotos in Toul Sleng

Die maßlose Brutalität der Khmers Rouges ist auch für Kambodschaner schwer zu erklären, ist doch das südostasiatische Volk ein ausgesprochen freundliches. Niemand würde hier auf der Straße herumstreiten oder schreien, geschweige denn seine Fäuste zu Hilfe nehmen. Auch die Roten Khmer haben, wie Zeitzeugen berichten, stets gelächelt – selbst dann noch, wenn sie ihre Opfer zur Hinrichtung abführten. Vielleicht ist die gnadenlose Gewalt ja die andere, böse Seite der stoischen Gleichmut, die dieses Volkes ansonsten auszeichnet.

Nach der „Befreiung“, wie es in Kambodscha ebenso stereotyp wie früher in der DDR heißt, machte die von den Vietnamesen eingesetzte Regierung aus dem Gefängnis eine Erinnerungsstätte. Die Schrecken der Vergangenheit wurden – wie die KZs in der DDR – zur Rechtfertigung der neuen Herrschaft gebraucht. Immerhin ist dadurch das Gefängnis erhalten geblieben, während die meisten anderen Folterorte inzwischen verschwunden sind – wie in Siam Reap, nahe der Tempelstadt Angkor, wo auf dem einstigen Gefängnisgelände ein Luxushotel steht. In Phnom Penh wurden damals auch die Gefangenenfotos, Erfassungsbögen und Geständnisse eingesammelt, die die Roten Khmer in der Gegend verstreut hatten und die jetzt in einem abgedunkelten Klassenzimmer liegen – ein Archiv des Grauens, das von der UNESCO zum Memory of the World erklärt wurde.

Das Museum hat seit einigen Jahren einen neuen Direktor. Sein Büro befindet sich in dem Raum, in dem früher die Gefangenen nach ihrer Einlieferung fotografiert wurden. Chhay Visoth, der zuvor in der Verwaltung des Nationalmuseum arbeitete, bemüht sich, den Erinnerungsort mit bescheidenen finanziellen Mitteln attraktiver zu machen. Seinen Vorgänger interessierte vor allem das Geld westlicher Besucher. Entsprechend heruntergekommen sah das weltbekannte Gefängnis aus.

Improvisierte Restaurierungswerkstatt – Museumsdirektor Chhay Visoth mit Folterwerkzeugen

Der neue Direktor möchte, dass wieder mehr kambodschanische Besucher kommen. Deren Zahl hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Für Kambodschaner sei die vor mehr als 30 Jahren eingerichtete Dauerausstellung „langweilig“ und „deprimierend“, sagt Visoth. Sie ermutige nicht zum Wiederkommen. Deswegen gibt es jetzt auch Sonderausstellungen und Zeitzeugengespräche. Für die zahlreichen Touristen wurde zudem ein mehrsprachiger Audioguide produziert. Die Website des Museum ist inzwischen viersprachig. Da es in seinem schlecht bezahlten Team kaum Museumsfachleute gibt, stellen ihm ausländische Hilfsorganisationen wie die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) für seine Arbeit temporär immer wieder Mitarbeiter zur Verfügung.

Die umfangreiche Entwicklungshilfe, die Kambodscha bekommt, hat (auch) auf dem Gebiet der Aufarbeitung eine merkwürdige Subventionsmentalität entstehen lassen. Statt selbst nach Lösungen für die Probleme zu suchen, hat man sich daran gewöhnt, dass die Wohlhabenderen dafür zahlen. Und der Westen erweist sich als ziemlich freigiebig, weil er das Land nicht den Chinesen überlassen will – und weil er ein schlechtes Gewissen hat, dass er das Pol-Pot-Regime nach dessen Sturz noch jahrelang unterstützt hat. So kommt es, dass die meisten Nicht-Regierungs-Organisationen am Tropf ausländischer Geldgeber hängen; dass vielerorts westliche Berater mitarbeiten, die beim Abfassen der Projektanträge helfen; dass aufwändig gestaltete Zeitzeugenpublikationen erscheinen, obwohl es sonst kaum Bücher im Lande gibt; dass Regierungsvertreter wie selbstverständlich erklären, dass die Opfer nur dann eine Entschädigung erhalten würden, wenn das Ausland sie bezahle.

Teures UN-Tribunal

Fast ausschließlich von außen finanziert wird auch das sogenannte Khmer-Rouge-Tribunal. Die Außerordentlichen Kammern an den Gerichten von Kambodscha, wie der offizielle Name lautet, haben nach jahrelangen Verhandlungen mit der UNO im Juni 2007 ihre Arbeit aufgenommen. Das Tribunal soll die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen.

Der Gerichtshof, der in einer ehemaligen Kaserne außerhalb Phnom Penhs arbeitet, hat bis Ende 2017 knapp 280 Millionen Euro gekostet. Deutschland fast 15 Millionen beigesteuert hat. Hat man die Eingangskontrolle und den Sicherheitscheck passiert, fühlt man schon am plötzlichen Temperatursturz von 30 auf geschätzte 15 Grad Celsius, dass man sich in einer anderen Welt befindet. Während sich draußen die Minenopfer mit ihren vernarbten Beinstümpfen vielfach mühevoll über die verschmutzten Gehwege schieben müssen, gibt es hier Treppenlifte für Behinderte. Es ist, als hätte ein riesiges Raumschiff hochentwickelter Außerirdischer im zurückgebliebenen Kambodscha notlanden müssen.

Das Tribunal besteht aus zwei Kammern, die aus internationalen und kambodschanischen Richtern zusammengesetzt sind. Für seine Entscheidungen benötigt es eine „Super-Majority“, so dass wenigstens ein internationaler Richter den Beschlüssen zustimmen muss. Neben den Richtern gehören auch Staatsanwälte und Ermittlungsrichter zu dem Gericht sowie jede Menge Anwälte, Berater, Übersetzer, Pressereferenten, Techniker, Sicherheitsleute, Kantinenmitarbeiter etc. – alles in allem etwa 2000 Personen. Juristen aus aller Welt studieren hier Dokumente, hören Zeugen an, ermitteln Sachverhalte, fertigen Expertisen an – und haben dennoch nur eine bescheidene Bilanz vorzubringen: Im Verfahren 001 wurde der Chef des Foltergefängnisses in Phnom Pheng, Kaing Guek Eav, 2012 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht befand ihn für schuldig, an der Tötung von mindestens 14.000 Menschen beteiligt gewesen zu sein. Im Verfahren 002 erhielten der Chefideologe der Roten Khmer, Nuon Chea („Bruder Nr. 2“), und Ex-Staatschef Khieu Samphan 2016 dieselbe Strafe. Rechnet man die Kosten auf die drei ergangenen Urteile um, kostete jedes Verfahren mehr als 90 Millionen Euro – vermutlich die teuersten Prozesse der Justizgeschichte.

Raumschiff UN-Tribunal – Kommunismusexperte Hubertus Knabe vor dem teuersten Gericht der Welt

An diesem Montag im Jahr 2012 wird gerade der Vizechef des Documentation Center of Cambodia (DC-Cam) vernommen. Die weinrot gekleideten Richter – drei Kambodschaner, eine Australierin und ein Franzose – thronen erhöht am Ende des Gerichtssaals, unter ihnen die Staatsanwälte in violetten und die Verteidiger in schwarzen Roben, dazwischen die drei Angeklagten. Eine Glaswand schützt das Gericht vor den schätzungsweise 200 Schülern und 50 Erwachsenen, die die Verhandlung vom Zuschauersaal aus verfolgen.

Die Vernehmung wurde angesetzt, weil die Verteidigung die Beweiskraft der vorgelegten Dokumente angezweifelt hat. Das simultan übersetzte Zwiegespräch artet bald in eine archivwissenschaftliche Nachhilfestunde aus. Einzige Abwechslung bringt das dringende Bedürfnis der greisen Angeklagten, ihre Blase zu entleeren, so dass sie in regelmäßigen Abständen am Arm eines Uniformierten aus dem Saal geführt werden.

Verhandelt wird an diesem Tag gegen die letzten noch lebenden Spitzenfunktionäre der Khmers Rouges: Chefideologe Nuon Chea, Ex-Staatschef Khieu Samphan und Ex-Außenminister Ieng Sary. Letzterer starb bereits 2013, noch bevor es zu einer Verurteilung kommen konnte. Seine Frau, ursprünglich ebenfalls angeklagt, wurde 2012 wegen Demenz auf freien Fuß gesetzt und starb 2015.

Hinter den Kulissen des Gerichts rumort es immer wieder, weil es gravierende Meinungsverschiedenheiten mit der Regierung gibt. So lehnte es Kambodscha 2012 ab, einen neuen internationalen Ermittlungsrichter zu berufen – was einen Verstoß gegen die Vereinbarungen mit der UNO bedeutete. Die Regierung, so hieß es damals, wolle damit verhindern, dass weitere Verfahren eröffnet werden. Dauer-Ministerpräsident Hun Sen hat wiederholt öffentlich erklärt, dass er keine weiteren Prozesse zulassen werde.

Die Absicht der Regierung, die strafrechtliche Aufarbeitung auf ganz wenige Personen zu beschränken, ist unübersehbar. In der Selbstdarstellungsbroschüre des Gerichts wird mehrfach betont, dass niedrige und mittlere Funktionäre der Khmers Rouges nichts zu befürchten hätten – auch dann nicht, wenn sie Verbrechen begangen hätten. Nur die Hauptschuldigen fielen unter die Zuständigkeit des Gerichts, die Politik der nationalen Versöhnung sei unverändert in Kraft. Dass sich das Tribunal gleichzeitig intensiv darum bemüht, Betroffene als Zeugen oder Nebenkläger zu gewinnen, wirkt vor diesem Hintergrund fast wie eine Farce.

Erfolgreicher als bei der Bestrafung der Täter ist das Gericht bei der Aufklärung der Bevölkerung. Aus dem ganzen Land hat es bislang mehr als 100 000 Menschen kostenlos mit Bussen abgeholt, damit sie an einer Verhandlung oder an einer Fahrt in die Erinnerungsstätten von Tuol Sleng und Choeung Ek teilnehmen können. Das Tribunal ist dadurch zu einer der wichtigsten Einrichtungen der politischen Bildung geworden.

Zuständig ist dafür die Victims Support Section (VSS) des Gerichts, die die Beteiligung der Opfer an den Verfahren gewährleisten soll. Am Verfahren Nr. 002 wirkten ganze 4000 Nebenkläger mit, die in Foren und Workshops informiert wurden. Die Sektion kümmert sich auch um Entschädigungen, die allerdings nicht individuell geleistet werden, sondern nur in Erinnerungsprojekten bestehen.

Privates Dokumentationszentrum

Wer diese Arbeit später einmal fortführen soll, ist ungewiss. Am ehesten dafür geeignet erscheint das Documentation Center of Cambodia (DC-Cam) – eine Art kambodschanische Stasi-Unterlagen-Behörde, die seit 1995 mit Unterstützung der Regierung nach Belegen für die Verbrechen der Khmers Rouges fahndet. Das anfangs von der Yale Universität betriebene Archiv hat sich zur bedeutendsten Aufarbeitungseinrichtung des Landes entwickelt. Das private Institut wird zwar ebenfalls ausschließlich aus dem Ausland finanziert, arbeitet aber mit 48 Mitarbeitern und einem Jahresetat von 600 000 Dollar weit kostengünstiger als das Gericht.

Das Dokumentationszentrum residiert in einem zweistöckigen Gebäudes an einer Hauptstraße von Phnom Penh. Gleich im Eingangsbereich steht die Schatzkammer der Organisation: feuersichere, fest verschlossene Stahlschränke, in denen sich die Ausbeute jahrelanger Suche befindet. Um Beweise für die Verbrechen der Khmers Rouges zu finden, druckte das Zentrum eine Broschüre, in der sie die Bevölkerung um Mithilfe bat. Mitarbeiter, meist junge Leute, die im Ausland studiert hatten, reisten in alle Landesteile, befragten Täter und Opfer und trugen systematisch Unterlagen zusammen. 50 000 Interviews und 1,2 Millionen Seiten Dokumente sind auf diese Weise zusammengekommen, rund eine Million Namen von Opfern wurden im Internet veröffentlicht – eine Art Gedächtnis der Nation, das nicht nur für das Khmer-Rouge-Tribunal, sondern auch für viele Forscher von unschätzbarem Wert ist.

Das Zentrum betreibt inzwischen auch eine umfangreiche Bildungsarbeit, die es selbst als „Genoziderziehung“ bezeichnet. In Zusammenarbeit mit dem Erziehungsministerium hat es – maßgeblich finanziert durch die Deutsche Botschaft – rund 500 000 Geschichtsbücher an kambodschanische Oberschüler verteilt; 3000 Pädagogen, 300 Polizeioffiziere und 100 Universitätsdozenten wurden fachlich weitergebildet. In einem anderen Projekt geht es darum, an den Schulen auf Spendenbasis kleine Gedenkstätten einzurichten, und in Phnom Penh soll irgendwann ein gigantisches Museum mit Druckerei, Bibliothek, Forschungszentrum und eigener Highschool entstehen. Die Entwürfe hängen schon an den Wänden des Zentrums, die Website wurde von Deutschland finanziert. Doch das Geld für das Zentrum hat man bisher nicht. DC-Cam-Chef Youk Chhang ist dennoch davon überzeugt, dass Kambodscha in der von Diktaturen geprägten Region langfristig zum Vorbild der Aufarbeitung werden könne.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Nach dem Ende des Pol-Pot-Regimes hatte die Regierung zunächst alle Hände voll damit zu tun, das Schul- und Universitätssystem wieder aufzubauen. 80 Prozent der Lehrer waren nicht mehr am Leben, neue mussten in Schnellkursen herangebildet werden. „Wer wenig weiß, unterrichtet den, der gar nichts weiß, wer mehr weiß, den, der wenig weiß“, lautete damals eine gängige Parole. Inzwischen gibt es nicht nur ein zwölfklassiges Schulsystem, sondern auch Curricula, die vorschreiben, dass die Verbrechen der Khmers Rouges in der 9. und 12. Klasse in mehreren Schulstunden zu behandeln sind.

Der langjährige Bildungsminister Im Sethy war selber beinahe Opfer der Roten Khmer geworden. Nach ihrer Machtergreifung flüchtete er sich in ein Dorf und gab sich als einfacher Arbeiter aus, seine Brille hatte er vorher weggeworfen. 2012 erinnerte sich der kleine, stämmige Mann, der fließend Französisch und Englisch sprach, im Gespräch mit dem Autor daran, wie seine Verkleidung aufflog, als er vom Chef eines Gefangenenlagers in der Nähe überraschend zum Mittagessen eingeladen wurde. „Du bist kein Arbeiter,“ hätte ihm dieser damals ins Gesicht gesagt, „so isst kein Arbeiter!“ Warum er dennoch nicht verhaftet wurde, wisse er nicht.

Im Gegensatz zu vielen anderen, die nur das unvorstellbare Ausmaß der Gewalt vor Augen haben, bringt der Minister eine klare Vorstellung zum Ausdruck, warum die Roten Khmer diesen Terror ausübten. War es Unzufriedenheit, die die arme Landbevölkerung zum Vernichtungsfeldzug gegen die Städter trieben? War es die Mentalität der Kambodschaner, die sie so gnadenlos agieren ließ? „Nein,“ sagt der Minister, „es war die Ideologie der absoluten Gleichheit. Pol Pot wollte den wahren Kommunismus errichten und dabei sogar Mao übertreffen – deshalb wollte er die neue Gesellschaft sofort.“ Von seinem kommunistischen Traum blieben am Ende nur Totenschädel zurück.

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Aktualisiert am 13.02.2019



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