Mehr als zweieinhalb Jahre war der Journalist Stanislav Aseyev Gefangener im Donbass. Seine Erfahrungen hat er in einem Buch festgehalten. Es macht deutlich, was nach einer militärischen Niederlage auch anderswo in der Ukraine droht.
Von Hubertus Knabe
Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer hat unlängst an Bundeskanzler Olaf Scholz appelliert, dass Deutschland nicht „weitere schwere Waffen“ an die Ukraine liefert. Begründet hat sie dies unter anderem mit dem zunehmenden Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung. „Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis,“ schrieben sie und weitere Unterzeichner in einem Offenen Brief.
Die Vorstellung, dass bei einer militärischen Niederlage der Ukraine das Leiden der Bevölkerung ein Ende finden würde, zeugt von Unkenntnis über das russische Vorgehen. Wie die seit 2014 von Moskau kontrollierten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk zeigen, folgt auf den Abzug des ukrainischen Militärs nämlich keineswegs eine Periode des Friedens. Hinter der kämpfenden Truppe halten dann vielmehr Einheiten der russischen Geheimpolizei Einzug, um die eroberten Gebiete dauerhaft zu unterwerfen.
Der aus Donezk stammende Journalist Stanislav Aseyev hat ein Buch geschrieben, das dieses schon unter Stalin praktizierte Vorgehen anschaulich macht. Weil er in seinen Reportagen aus der Ost-Ukraine den Begriff „Donezker Volksrepublik“ in Anführungsstrichen setzte, wurde er 2017 für mehr als zweieinhalb Jahre inhaftiert. In seinem Buch „Heller Weg“ beschreibt er seine Erfahrungen in mehreren Haftanstalten des prorussischen Regimes. Nach dem Ende der totalitären Diktaturen in Deutschland und der Sowjetunion hat Aseyev damit der Lagerliteratur von Elli Wiesel bis Alexander Solschenizyn ein verstörendes Werk hinzugefügt, das zu lesen man Schwarzer sehr ans Herz legen möchte.
Männer in Sturmhauben
27 Jahre alt ist Aseyev, als er in Donezk unerwartet festgenommen wird. Er kommt in eine feucht-kalte Kellerzelle des Ministeriums für Staatssicherheit, deren Wände verschimmelt sind und in der selbst im Juni noch der Atem kondensiert. Es gibt keine Toilette, sondern nur Flaschen für den Urin und Einweggeschirr für die Fäkalien. Eine Videokamera überwacht ihn Tag und Nacht und auch nachts brennt an der Decke eine lilafarbene Lampe. Anderthalb Monate verbringt er hier ohne Sonnenlicht und Frischluft, so dass sich seine Haut zu schälen beginnt. Er versinkt in Depressionen und sieht nur noch im Selbstmord einen Ausweg.
Irgendwann wann wird Aseyev mit einer Tüte über dem Kopf nach oben in ein Büro gebracht, wo ihn Männer in Sturmhauben verhören. Erst schlagen sie ihn unter Beschimpfungen mit einem Gummiknüppel immer wieder auf ein und dieselbe Stelle, bis sich das Bein unter der Jeans wie eine Blase vergrößert. Dann holen sie einen alten Telefonapparat mit Drähten, die sie an seinen Daumen befestigen. Während des nun folgenden Verhörs jagen sie ihm damit bei jeder falschen oder verneinenden Antwort Strom durch den Körper. Als er zu schreien beginnt, drohen sie ihm, ein Stück seiner Nase abzuschneiden. Später befestigen sie die Drähte an seinem linken Ohr, so dass er nahezu bewusstlos wird. Ob er am Ende bereit ist, die ihm vorgelegten Aussagen zu unterschreiben, lässt Aseyev offen.
Nach sechs Wochen wird der junge Journalist an einen anderen Haftort überführt: eine ehemalige Fabrik für Isoliermaterialien, die der russische Geheimdienst FSB seit 2014 als Gefangenenlager nutzt. Es befindet sich im Zentrum von Donzek am Hellen Weg Nr. 3 und ist für besonders gefährliche Häftlinge vorgesehen. Bis zu 70 kahl geschorene Gefangene sind hier gleichzeitig untergebracht, darunter solche, die sich kritisch in sozialen Netzwerken geäußert haben, aber auch viele ehemalige Kämpfer der „Volksrepublik“. Die meisten von ihnen sind in Zellen mit mehr als zehn Inhaftierten zusammengepfercht, einige müssen auch in den Keller, in den Stehkarzer oder in die „Luxus-Suite“ – eine Zelle von nur anderthalb mal zwei Metern. Außerhalb seiner Zelle darf sich Aseyev acht Monate lang nur mit einer Tüte über dem Kopf bewegen.
In dem Buch beschreibt er detailliert, mit welchen Methoden der sadistische Lagerchef Palytch das Selbstwertgefühl der Häftlinge zerstört. Vor allem nachts werden sie aus den Zellen geholt und im Keller mit Klebeband auf einem Metalltisch fixiert, wo sie mit Stromstößen gefoltert werden. Mit Vorliebe werden die Drähte am Penis, an den Hoden und am Anus befestigt. Zurück bleiben schwere Brandwunden. Eine andere Methode ist es, die Gefangenen mit ausgestreckten Armen und Beinen stundenlang an der Wand stehen zu lassen und ihnen dabei von hinten auf die Genitalien zu prügeln – oder, als „leichteste Strafe“, sie einfach stehen zu lassen, bis sie umfallen. Während der nächtlichen Folterungen müssen die Gefangenen nebenan lauthals sowjetische Kriegslieder singen.
Die Entscheidung, wer Opfer dieser Prozeduren wird, fällt in einem Raum im Obergeschoss, wo auf einem Monitor auf quadratischen Bildern alle Zellen zu sehen sind. Wenn der Lagerchef getrunken hat, geht er, oft in Begleitung des Arztes und einiger mit Sturmhauben und Maschinengewehren ausgestatteten Wärter, in den Zellengang und öffnet blitzschnell eine der Türen. Wer dann entgegen den Vorschriften nicht mit einer Plastiktüte über dem Gesicht und den Händen auf dem Rücken zum weiß übermalten Fenster schaut, wird brutal zusammengeschlagen. Fast jede Nacht hört Aseyev in einer der Nachbarzellen dumpfe Schläge und lautes Stöhnen.
Angst und Erniedrigung
Die wichtigsten Herrschaftsinstrumente in dem Lager sind Angst und Erniedrigung. Viele Häftlinge können nachts nicht schlafen, weil sie fürchten, dass die Tür aufgehen könnte oder sie die Uhrzeit verpassen, ab der sie nicht mehr auf der Pritsche sitzen dürfen. Zur Strafe werden sie dann nicht nur geschlagen, sondern oft auch unter die Pritsche gejagt, wo sie wie ein Hund bellen müssen. Ein anderes „Spiel“ der Wachmannschaften ist es, einen Häftling in eine metallene Waschschüssel zu setzen und dann mit aller Kraft gegen die Wand zu stoßen. Oder sie sorgen dafür, dass der Fäkalieneimer, den die Häftlinge mit einer Tüte auf dem Kopf die Treppe heraufgetragen müssen, überschwappt. Die Gefangenen, die nur mit „Vieh“ oder „Päderast“ angesprochen werden, müssen sich auch gegenseitig verprügeln, damit zwischen ihnen kein Zusammengehörigkeitsgefühl entsteht.
Für Alice Schwarzer von besonderem Interesse dürften jene Passagen sein, in denen Aseyev beschreibt, wie der gewalttätige Lagerchef die weiblichen Gefangenen misshandelt. Auf eine alte Frau schlägt er so lange ein, bis es selbst dem Wachmann zu viel wird. Die jungen Frauen werden regelmäßig vergewaltigt. Einmal hört Aseyev, wie der Kommandant betrunken in die gegenüberliegende Frauenzelle stürzt, die Gefangenen als Schlampen beschimpft und dann eine der Frauen auffordert, ihn oral zu befriedigen. Später wird aus der Frauenzelle ein regelrechtes Zwangsbordell.
Aseyev, der mehr als zwei Jahre in dem Lager verbringt, beschreibt diese Vorgänge nicht anklagend, sondern eher wie jemand, der das Unvorstellbare zu verstehen sucht. Trotz seines jungen Alters reflektiert er über die Mechanik konditionierter Reflexe zur Zerstörung der Persönlichkeit, über die Angst als „psychologische Schleife in einer relativ ruhigen Umgebung“, über Depression, Gott, Selbstmord als letzte verbliebene Freiheit oder über die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Mithäftlinge, was er „psychologischen Separatismus“ nennt. In einem den Folterern gewidmeten Kapitel fragt er sich: „Sind das Menschen? Zweifellos ja. Genau die Offensichtlichkeit der Antwort erschreckt, von der man sich nicht mit einer Hinweistafel ‚Er ist Psychopath‘ abgrenzen kann.“
Ende 2019 wird Aseyev in das Donezker Untersuchungsgefängnis verlegt, das nicht der Geheimpolizei untersteht. Hier darf ihn sogar einmal seine Mutter besuchen, dann wird er zu zweimal 15 Jahren Haft verurteilt. Anschließend kommt er ins Straflager Makijiwka, von wo aus er im Rahmen eines Gefangenenaustausches zwischen Russland und der Ukraine nach Kiew gelangt. Hier und bei Vorträgen in Straßburg und Prag merkt er nicht nur, dass er seine traumatischen Erlebnisse nicht wirklich vermitteln kann. Er spürt auch, dass er selbst nie wieder so sein wird wie früher. „Der Luxus Europas ist die Ruhe,“ fährt es ihm beim Blick auf die friedlichen Gassen und Cafés durch den Kopf – ein Satz, den man Alice Schwarzer ins Stammbuch schreiben möchte.
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