Ein Held ohne Pferd

Eine Diktatur vor Gericht - Staatsanwalt Julio Strassera (l) spricht zu den Angeklagten im Film „Argentinien 1985“

Ein argentinischer Staatsanwalt erhob 1985 Anklage gegen die abgetretene Militärjunta. Der Regisseur Santiago Mitre hat ihm jetzt ein filmisches Denkmal gesetzt. Bei der Oscar-Verleihung ging „Argentinien 1985“ jedoch leer aus.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Graciela Fernández Meijide weiß immer noch nicht, was mit ihrem Sohn geschehen ist. 1976 wurde er im Alter von 17 Jahren von argentinischen Militärs entführt, weil es an seiner früheren Schule eine kritische Schülergruppe gab. „In der Diktatur haben mein Sohn und ich aufgehört, Bürger zu sein,“ sagt die 92jährige, deren Leben sich damals grundlegend änderte: Sie quittierte ihren Dienst als Lehrerin und widmete sich fortan dem Kampf um die Menschenrechte.

Meijides Sohn ist nur einer von rund 7000 Desaparecidos, die nach dem Putsch der Militärs am 24. März 1976 spurlos verschwanden. In einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise, mit einer Inflation von 300 Prozent und brutalen Anschlägen vor allem linker Terroristen, hatten die Oberbefehlshaber der Armee damals die Macht übernommen. Doch statt einen „Prozess der Nationalen Reorganisation“ einzuleiten, wie es die Junta unter General Videla ankündigte, begann sie einen „Schmutzigen Krieg“ gegen die eigenen Bürger: Zivil gekleidete Einsatzkommandos mit ungekennzeichneten Fahrzeugen verschleppten Tausende meist junge Argentinier, weil diese verdächtigt wurden, die linke Guerilla zu unterstützen.

Heute weiß man, dass die Festgenommenen in eines der 762 geheimen Haftzentren gebracht wurden, wo sie verhört und gefoltert wurden. Danach verliert sich oftmals ihre Spur, doch ein Militär gab später an, dass viele von ihnen betäubt und bei so genannten Todesflügen ins Meer geworfen worden seien. Ungeklärt ist auch der Verbleib von mehreren Dutzend Kindern, die die Armee nach der Verhaftung der Eltern in regimenahe Familien gab. Bei weit über eintausend Menschen steht heute fest, dass sie in der Haft getötet wurden.

Über 1000 Menschen in der Haft getötet – Geheimes Folterzentrum auf dem Militärgelände ESMA in Buenos Aires (2)

1983 ließ das Militär erstmals wieder freie Wahlen zu – nicht ohne zuvor für sich selbst eine umfassende Amnestie beschlossen zu haben. Der neue Präsident Raúl Alfonsín setzte eine Nationale Kommission über die Verschwundenen (CONADEP) ein, die alsbald Tausende Verschleppungen dokumentierte. Auf seine Initiative erklärte das Parlament nicht nur die Amnestie für verfassungswidrig, sondern änderte auch das Militärstrafrecht: Entscheidungen des Obersten Militärgerichtes konnten nun vor dem zivilen Berufungsgericht angefochten werden.

Wettlauf gegen die Zeit

Genau hier beginnt Santiago Mitres Film „Argentinien 1985“, der in der Kategorie „bester internationaler Film“ für einen Oscar nominiert worden war. Nach der Weigerung des Militärgerichts, einen Prozess gegen die ehemalige Junta zu eröffnen, landet der Fall vor dem zivilen Berufungsgericht. Dem neu ernannten Staatsanwalt Julio Strassera (gespielt von Ricardo Darín) fällt die Aufgabe zu, innerhalb weniger Monate Anklage zu erheben. Er sträubt sich zunächst, weil er Angst um seine Familie hat und davon ausgeht, dass das Gericht die Militärs ohnehin nicht verurteilen werde. Außerdem gibt es im Justizapparat niemanden, der ihn unterstützen könnte, so dass er ein „Held ohne Pferd“ ist, wie es ein argentinischer Rezensent formulierte. Sein Stellvertreter Luis Moreno Ocampo (Peter Lanzani) – der später erster Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wird – schlägt daraufhin vor, junge, unerfahrene Juristen anzuheuern, die mit dem alten Regime nichts zu tun haben.

Aus dieser Konstellation gewinnt der Film seine Dynamik: In einem Wettlauf gegen die Zeit schwärmen die jungen Leute aus, um Belastungsmaterial zusammenzutragen. Sie sichten Unterlagen, befragen Zeugen und überzeugen sie, vor Gericht auszusagen. So will der Staatsanwalt beweisen, dass es sich nicht um Einzelfälle oder notwendige Maßnahmen im Kampf gegen linke Guerilleros handelte, sondern um einen systematischen Vernichtungsplan. Mit diesem Kunstgriff stellt Mitra einen Bezug zur jungen Generation her, die von der vor 40 Jahren zu Ende gegangenen Diktatur heute nur noch wenig weiß.

Nicht Einzelfälle, sondern systematischer Vernichtungsplan – Ermittlungsteam im Film „Argentinien 1985“ (3)

Viele Szenen spielen aber auch in Strasseras Wohnung in Buenos Aires. Sie zeigen vor allem, dass die Militärs ein gutes Jahr nach ihrem Rückzug immer noch Furcht und Schrecken verbreiten. Der Staatsanwalt erhält immer wieder Drohanrufe. Er hat Angst um seine Tochter, die sich mit einem Unbekannten trifft, weshalb er sie von ihrem Bruder beschatten lässt. Der Film erhält dadurch eine subtile Spannung, aber auch eine große Privatheit, die besonders in der Unterstützung durch seine Frau und seinen Sohn zum Ausdruck kommt. Als eine Art Ventil dienen eingestreute humoristische Szenen wie die, als Strassera durch die Tür einer Toilette von seinem Stellvertreter nach dem Ausgang seines Gespräches beim Präsidenten befragt wird. Er antwortet, der Präsident habe gesagt, er solle mit den Militärs so sanft umgehen, wie er es gerade mit dem Toilettenpapier tue.

Nachdem es Strassera gelungen ist, die Anklageschrift rechtzeitig fertigzustellen, kommt es zum Prozess. Erstmals werden hier die ehemaligen Junta-Mitglieder öffentlich mit ihren Verbrechen konfrontiert. Mitre mischt dabei Originalaufnahmen mit nachgespielten Szenen, was dem Film die Aura der Authentizität verleiht. Insbesondere die Zeugenaussage einer Frau, die in einem Auto der Militärs ihr Kind zur Welt bringen musste und dann gezwungen wurde, es irgendwo auf einem kalten Tisch abzulegen, führt die Grausamkeit der Militärs vor Augen.

Dramaturgischer Höhepunkt ist Strasseras Schlussplädoyer. Es endet mit zwei Worten, die schon die CONADEP-Kommission als Titel für ihren Abschlussbericht wählte und die in Lateinamerika bis heute populär sind: „Nunca más – Nie wieder“. Als schließlich das Urteil verkündet wird, zeigt der Film ein jubelndes Publikum, das die Gerichtsbeamten nicht mehr zur Ruhe bringen können. Videla und ein weiteres Junta-Mitglied erhalten lebenslänglich, sein Nachfolger General Roberto Viola bekommt 17 Jahre, vier Angeklagte werden freigesprochen.

Lebenslänglich für den Junta-Chef – Staatsanwalt Strassera (r) und sein Stellvertreter mit den Angeklagten 1985 (4) 

Umstrittene Aufarbeitung

In Argentinien, wo der Film bereits Ende vergangenen Jahres in die Kinos kam, hat die Geschichte des 2015 verstorbenen Staatsanwaltes dem Terror der Militärdiktatur unerwartet neue Aufmerksamkeit beschert. In einem Land mit einer Inflation von fast 100 Prozent und einer Armutsrate von über 43 Prozent haben die meisten Menschen derzeit andere Sorgen, als sich mit den Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen. Die Gedenkstätte im ehemaligen Folterzentrum ESMA in Buenos Aires verzeichnet gerade einmal 25 000 Besucher pro Jahr, der vor 20 Jahren gebaute „Park der Erinnerung“ ist meistens verwaist.

Zudem gilt das Thema als von den Peronisten okkupiert, seitdem Präsident Néstor Kirchner sowie seine Frau und Nachfolgerin Cristina die Aufarbeitung nach der Jahrtausendwende zur Regierungspolitik erhoben. Anders als im Film endete die Geschichte nämlich nicht mit einem Happy End, sondern Videla und seine Mitangeklagten wurden nach wenigen Jahren wieder auf freien Fuß gesetzt. Erst 2003, unter Néstor Kirchner, hob das argentinische Parlament die Amnestiegesetze als verfassungswidrig auf und Videla sowie rund eintausend weitere Militärs wurden in der Folge zu langen Haftstrafen verurteilt. Die Menschenrechtsgruppen – besonders die Mütter von der Plaza de Mayo, die vor dem Präsidentenpalast bis heute jeden Donnerstag Aufklärung über das Schicksal ihrer Kinder verlangen – werden von vielen Hauptstädtern als militante Parteigänger Cristina Kirchners gesehen.

Auch interessant: Die Totenschädel der Khmers Rouges. Wie Kambodscha die Verbrechen Pol Pots (nicht) aufarbeitet

Vor diesem Hintergrund ist es bereits eine Leistung, dass Mitras Film – der weltweit auf Amazon Prime zu sehen ist – in Argentinien auf breite Zustimmung stößt. Der frühere Staatssekretär für Menschenrechte, Claudio Avruj, erzählt, im Kino in Buenos Aires hätten „alle geweint“. Der „Kirchnerismus“ habe hingegen versucht, die Bedeutung des Prozesses herabzumindern. Kritisch merkt er lediglich an, dass Präsident Alfonsín und die CONADEP-Kommission nur am Rande erwähnt würden. Den Peronisten wirft er vor, überhöhte Opferzahlen zu verwenden und die Opfer des linken Terrors vor dem Putsch zu vergessen. Als er 2016 dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama die ESMA-Gedenkstätte habe zeigen wollen, hätten die Opferorganisationen gedroht, sich anzuketten, wenn der „US-Imperialist“ dort erscheine.

Von den Peronisten okkupiert – Hebe de Bonafini (l) von den Müttern der Plaza de Mayo mit Cristina Kirchner 2010 (5)

Auch Graciela Fernández Meijide, die in der CONADEP-Kommission einst die Zeugenaussagen sammelte, findet den Film „sehr gut gemacht.“ Sie kritisiert aber ebenfalls, dass Alfonsín nur als namenloser Präsident auftrete. Sie betont zudem, dass die vom Regisseur gezogene Parallele zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen falsch sei. Anders als in Deutschland habe die argentinische Regierung unter massivem Druck der Militärs gestanden – und trotzdem dafür gesorgt, dass der Junta der Prozess gemacht wurde. „Dafür gab es keinen historischen Präzedenzfall.“

Verónica Torrez, Direktorin des Archivs Memoria Abierta, sieht es ebenfalls als Mitras Verdienst an, das Thema wieder in die Öffentlichkeit gebracht zu haben. In dem von Menschenrechtsgruppen gegründeten Archiv lagert nicht nur der 530 Stunden lange Mitschnitt der Gerichtsverhandlung. Auch Strasseras Stellvertreter – dessen Mutter im Film den Prozess anfangs ablehnt, aber durch die Zeugenaussagen zum Umdenken gebracht wird – hat seine Unterlagen hierhin gegeben. Die Archivchefin stößt sich nur daran, dass der Film die Menschenrechtsbewegung nicht genügend würdige, auf deren Dokumenten der CONADEP-Bericht letztlich beruht habe. Wie Meijide verweist sie auf den Dokumentarfilm El juicio (Der Prozess), der auf dem Original-Mitschnitt beruht und im Februar auch auf der Berlinale gezeigt wurde.

Mit Spielfilmen über die Militärdiktatur hat Argentinien schon zweimal einen Oscar gewonnen: 1986 („Die offizielle Geschichte“) und 2010 („In ihren Augen“). In diesem Jahr gab die Jury jedoch einem anderen Film den Vorzug: In der Kategorie „bester internationaler Film“ gewann das deutsche Kriegsdrama „Im Westen nichts Neues“. Wer keine Lust hat auf bildgewaltige Schlachtszenen, der sollte sich Santiago Mitres Film „Argentinien 1985“ ansehen.

Bildnachweis
(1) © Prime Video_LaUniòndelosRios & KenyaFilms & InfinityHill
(2) © Hubertus Knabe
(3) © Argentinien, 1985_LaUniòndelosRios & KenyaFilms & PrimeVideo_Cast InfinityHill
(4) Unbekannter Autor / Public domain
(5) Ecunhi / CC BY-SA 3.0