Fast wie ein Staatsgast

Aufschlussreiche Stasi-Unterlagen - Vorstellung des "Transparenzportals" durch Olaf Scholz (M.) im Oktober 2014 (1)

Vier Monate nach der Bundestagswahl hat das Bundesarchiv erstmals Stasi-Unterlagen über Bundeskanzler Olaf Scholz herausgegeben. Sie belegen, dass er als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten enge Beziehungen zu DDR-Funktionären unterhielt. Medienberichte, der Staatssicherheitsdienst habe ihn zugleich jahrelang im Westen bespitzelt, sind dagegen falsch.

Von Hubertus Knabe

vgwort

In der ersten Biografie über Olaf Scholz gibt es eine bemerkenswerten Lücke: Wer in Lars Haiders Buch „Olaf Scholz. Der Weg zur Macht“ nach Informationen über Scholz‘ Beziehungen in die DDR Ausschau hält, sucht darin vergeblich. Seine enge Zusammenarbeit mit SED-Funktionären ist auch in anderen Porträts kein Thema. Nur Focusonline hatte im vergangenen Jahr über bis dahin unbekannte Unterlagen berichtet, die ein Schlaglicht auf Scholz‘ Kontakte in die DDR warfen. Sie stammten aus den Hinterlassenschaften der FDJ, dem Jugendverband der SED.

Jetzt hat das Bundesarchiv neue Unterlagen herausgegeben. Diese kommen aus den Beständen des DDR-Staatssicherheitsdienstes, in dessen Speichern Scholz gleich mehrfach verzeichnet ist. Und sie bestätigen das Bild, dass ihn die SED als wichtigen Bundesgenossen im Kampf gegen die NATO betrachtete. Denn als stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten kämpfte er seit 1982 entschieden gegen deren Vorhaben, in Westeuropa neue Mittelstreckenraketen zu stationieren.

Über Scholz‘ Einreisen in die DDR führte die Stasi akribisch Buch. Den Unterlagen zufolge weilte er zwischen September 1983 und Juni 1988 neunmal zu offiziellen Gesprächen bei FDJ und SED. Der Zentralrat des Jugendverbandes, der die meisten seiner Besuche organisierte, wies die DDR-Grenzorgane jeweils im Vorfeld an, ihn vom Zwangsumtausch zu befreien und ihm eine „besonders  bevorzugte, höfliche Abfertigung“ zuteilwerden zu lassen.

„Besonders  bevorzugte, höfliche Abfertigung“ – Sitz des FDJ-Zentralrates Unter den Linden in Ost-Berlin 1950 (2)

Scholz war damals Mitte Zwanzig und trug noch einen rotbraunen Wuschelkopf. Laut Stasi-Unterlagen reiste er in die DDR erstmals am 25. September 1983 per Zug über die Grenzübergangsstelle Gerstungen ein, um an einem „Internationalen Jugendlager“ in Werder teilzunehmen. 130 Gäste wurden dazu erwartet, für die 45 „Betreuer“ bereit standen.

Sechs Tage lang agitiert

Einem Schreiben der für innere Überwachung zuständigen Stasi-Hauptabteilung XX zufolge sollten die Teilnehmer bei der Veranstaltung „mit der Friedenspolitik und den Aktivitäten der UdSSR, der DDR sowie der anderen sozialistischen Staaten vertraut“ gemacht werden. Sechs Tage lang wurde die von Scholz geleitete Juso-Delegation mit Vorträgen von SED-Funktionären, abendlichen Veranstaltungen und Exkursionen agitiert. Auch ein Sauna-Besuch mit den FDJ-Oberen stand auf dem Programm.

Die DDR suchte damals den Schulterschluss mit der westdeutschen Friedensbewegung. Mit Massendemonstrationen protestierte diese gegen die geplante Stationierung der neuen Waffen als Antwort auf die Bedrohung Westeuropas durch sowjetische Mittelstreckenraketen. SED und Stasi taten alles, um diese Proteste anzufachen, wie ein geheimes Konzept „zur Förderung der Friedensbewegung“ zeigt. Scholz, der bei den Jungsozialisten dem ultralinken Stamokap-Flügel angehörte und die SPD dazu bringen wollte, sich gegen die Nachrüstung zu stellen, war für die DDR deshalb besonders interessant.

„Förderung der Friedensbewegung“ – Olaf Scholz (l.) bei einer Demonstration gegen die Nachrüstung, ca. 1982 (3)

Am 4. Januar 1984 reiste Scholz erneut in die DDR. Auf Einladung von FDJ-Chef Eberhard Aurich weilte eine Delegation des Juso-Bundesvorstandes drei Tage in Ost-Berlin und Potsdam. Der Bundestag hatte kurz zuvor der Raketenstationierung zugestimmt – ein Beschluss, den die Jungsozialisten nun durch Massenproteste wieder rückgängig machen wollten. Wie wichtig sie deshalb für die DDR-Führung waren, konnte man daran erkennen, dass sie gleich zu Beginn von Egon Krenz, dem zweitwichtigsten Mann im SED-Staat, empfangen wurden. Scholz und seine Genossen schafften es damals sogar bis in die DDR-Abendnachrichten und auf die Titelseite des Zentralorgans „Neues Deutschland“. (Anm. vom 01.02.2022: Das am 30.01.2022 noch zugängliche Youtube-Konto, das den Beitrag aus dem DDR-Fernsehen veröffentlicht hatte, wurde laut Youtube gekündigt. Eine unvollständige Version ist hier archiviert).

Bereits am nächsten Tag fertigte die Stasi-Hauptabteilung XX/2 eine ausführliche Information über den Besuch an. Gegenüber Krenz habe Juso-Chef Rudolf Hartung hervorgehoben, „dass die Jungsozialisten 1984 noch aktiver als bisher die Aktion der Friedensbewegung gegen die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa unterstützen“ wollten. Ihrer Ansicht „müsste die Sowjetunion den USA noch viel mehr Atomraketen vor die Haustür stellen.“ Als die Jusos nach der Verhaftung zweier Friedensengagierter in der DDR fragten, hätten sie sich mit Krenz‘ Erklärung zufriedengegeben, „dass in der DDR keiner für seine Gesinnung inhaftiert werde, sondern nur aus Gründen der Verletzung bestehender Gesetze.“

Am zweiten Tag des Besuchs fand ein Empfang in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin statt. Laut einer Information der Hauptabteilung XX/2 hob FDJ-Chef Aurich dabei hervor, dass Jungsozialisten und FDJ zur „amerikanischen Raketenaufrüstung in Europa gemeinsame Positionen“ hätten. Als die Jusos nach ihrem Standpunkt zur Stationierung sowjetischer Raketen in der DDR gefragt worden seien, hätte Scholz geantwortet, es gäbe zwar einen Beschluss der SPD gegen die Stationierung amerikanischer Raketen in der BRD, aber  keinen Beschluss gegen die Stationierung sowjetischer Raketen. Er halte die sowjetischen Raketen eindeutig für einen „Akt der Nachrüstung“.

„Akt der Nachrüstung“ – Ständige Vertretung der Bundesrepublik (l.) in der Hannoverschen Straße in Ost-Berlin (4)

Kryptische Datenbankeinträge

Am letzten Tag ihres Besuchs führten die Jungsozialisten noch ein Gespräch im Institut für Internationale Politik und Wirtschaft. Die Ost-Berliner Einrichtung fungierte als getarnte Außenstelle der Stasi-Spionageverwaltung HVA. Für diese arbeitete auch der Hamburger der SPD-Politiker Kurt Wand, der unter dem Decknamen „Kugel“ auch mehrfach über die Jusos berichtete. Übrig geblieben sind davon aber nur einige kryptische Datenbankeinträge, da die Agentenakte vernichtet wurde. Dass Scholz, wie in einigen Medien zu lesen war, von der Stasi im Westen „jahrelang bespitzelt“ worden wäre, wird durch die Unterlagen in keiner Weise belegt.

Überlebt hat jedoch der fünfseitige HVA-Bericht über das Treffen in dem Institut. Demzufolge wiederholte Juso-Chef Hartung dort seine Auffassung, dass es notwendig sei, vor allem den USA „etwas vor die Tür zu stellen“. Die Stationierung von Nuklearsystemen, die auf Westeuropa gerichtet seien, stelle „keine adäquate Bedrohung der USA“ dar. 1962 hatte die Aufstellung sowjetischer Atomraketen vor der Küste Amerikas während der Kubakrise fast zum Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion geführt.

Auch die Hauptabteilung XX/I fertigte einen ausführlichen Bericht über das Treffen in dem Institut an. Hervorgehoben wurde darin unter anderem, dass seitens der Jungsozialisten „keine Fragen mit provokatorischem Inhalt gestellt“ worden seien.  Die Juso-Delegation hätte vielmehr erklärt: „Das DDR-Bild in den Massenmedien der BRD muss verändert werden. Ausführungen von DDR-Politikern müssten mehr Beachtung finden und nicht nur negative Ereignisse geschildert werden.“ In einem weiteren Bericht wird geschildert, dass die SED-Funktionäre eine Äußerung Hartungs im Berliner „Tagesspiegel“ scharf kritisiert hätten. Laut einem FDJ-Papier, über das Focusonline bereits im September 2021 berichtete, habe sich Scholz daraufhin „offen vom Inhalt der Meldung“ distanziert.

Die Legende vom Spitzel-Opfer
Am 13. Januar berichteten zahlreiche Medien, Bundeskanzler Olaf Scholz sei jahrelang vom Staatssicherheitsdienst bespitzelt worden. Die Nachrichtenagentur DPA wusste zu berichten, „mehrere Stasi-Agenten seien auf ihn und die dortigen Jusos angesetzt gewesen.“ Laut Spiegel.de geriet er sogar bereits „als Gymnasiast (…) unter Beobachtung des DDR-Geheimdienstes.“ Scholz selbst erklärte: „Natürlich kenne ich die Tatsache, dass ich auch bespitzelt worden bin. Ist nicht schön, aber so isses eben.“
Die Berichte treffen nicht zu. Aus den sogenannten Rosenholz-Unterlagen geht hervor, dass Scholz erst im Alter von 26 Jahren von der Stasi erfasst wurde (siehe Dokument unten). Die Erfassung erfolgte auch nicht in einer personenbezogenen Akte, sondern im allgemeinen Objektvorgang zur SPD (Reg.nr. MfS 18252/60).
Dass die Stasi Agenten auf Scholz „angesetzt“ hätte, ist durch nichts belegt. In der Teildatenbank 12 der HVA wurden zwar 19 Berichte registriert, in denen auch er Erwähnung fand. Doch Einträge, bei denen es dem Titel zufolge um ihn ging, gibt es nicht. Zehn der 19 Informationen trafen zudem bereits ein, als die Stasi Scholz noch gar nicht registriert hatte.
Ein elfter Eintrag betrifft ein Gespräch zwischen FDJ und Jungsozialisten in Ost-Berlin, um das die Jusos selbst gebeten hatten. In dem erhalten gebliebenen Bericht wird Scholz nur am Anfang als Teilnehmer genannt. Vier weitere Einträge betreffen Tagungen, was erklärt, dass neben Scholz noch viele weitere Namen aufgelistet werden. Aus einem weiteren Eintrag geht hervor, dass eine Agentin im SPD-Parteivorstand (IM „Udo“) fünf Blätter lieferte, in denen auch Scholz Erwähnung fand.
Einzig von IM „Kugel“, hinter dem sich der Hamburger Jungsozialist Kurt Wand verbarg, sind über einen längeren Zeitraum Berichte verzeichnet. Doch die Hälfte davon stammt aus der Zeit vor Scholz‘ Erfassung und insgesamt waren es nur zwölf in neun Jahren. Fünfmal ging es dabei um Sitzungen des Beirates einer marxistischen Zeitschrift, dem Wand und Scholz angehörten. Die übrigen Berichte enthielten Einschätzungen zur Situation der Jusos und der Hamburger SPD. Keiner handelte explizit von Scholz und in allen wurden auch noch andere Personen erwähnt. Als Wand 1994 vor Gericht gestellt wurde, kamen die Richter zu dem Schluss, dass er nur „Informationen von minderer Bedeutung“ geliefert hätte – vor allem Anträge für Parteitage, Vorstandslisten und Einschätzungen über innerparteiliche Entwicklungen.
„Ist nicht schön, aber so isses eben“ – F16-Karteikarte der Spionageverwaltung HVA aus den Rosenholz-Unterlagen

Im Oktober 1986 weilte Scholz erneut beim Zentralrat der FDJ, diesmal zusammen mit dem neuen Juso-Chef Michael Guggemos. In einer Stasi-Information wird Scholz als „alter Politprofi“ beschrieben, „der in der Organisation großen Einfluss“ habe. Mit ihm – und nicht mit dem Verbandsvorsitzenden Guggemos – seien „auch die meisten Fragen zur Abschlussvereinbarung durchgesprochen“ worden. In dieser hatten sich die Jusos erstmals die dem Grundgesetz zuwider laufenden „Geraer Forderungen“ der DDR zu eigen gemacht.

Scholz traf damals erneut auf Egon Krenz – eine Tatsache, die bislang öffentlich nicht bekannt war. Dass Krenz die Juso-Delegation am 15. Oktober 1986 im Zentralkomitee der SED empfing, geht jedoch aus einem entsprechenden Bericht im „Neuen Deutschland“ hervor. Die Gesprächspartner hätten, so kann man da lesen, die Notwendigkeit unterstrichen, „den Kampf um den Weltfrieden zu verstärken.“ Nach den Einlassungen Krenz‘ hätten die Jusos ihre Forderung bekräftigt, alle Mittelstreckenraketen aus Europa abzuziehen – die in der Sowjetunion stationierten Waffen waren demnach nicht von der Forderung betroffen.

Rede in Wittenberg

In den folgenden zwei Jahren reiste Scholz noch fünfmal in die DDR. Schon im Dezember 1986 war er erneut beim Zentralrat der FDJ, diesmal zusammen mit Juso-Bundessekretär Bernhard Groth. Beide gehörten einer neu gegründeten Gemeinsamen Arbeitsgruppe von Jusos und FDJ zu Rüstungsfragen an. Im März 1987 war Scholz dann beim Internationalen Friedensseminar der FDJ, wo er, wie „Neues Deutschland“ berichtete, auch an einer Pressekonferenz mitwirkte. Einige Monate später hielt der Vizechef der Jusos in Wittenberg auf einer „Friedensmanifestation“ der FDJ eine Rede, die im Radio übertragen wurde. Auf alten Fotos sieht man, wie er mit FDJ-Chef Aurich an der Spitze eines Demonstrationszuges marschiert. Da er über den Berliner Bahnhof Friedrichstraße einreiste, ist zu vermuten, dass ihn die FDJ in die 100 Kilometer entfernte Stadt chauffierte.

„Friedensmanifestation der FDJ“ – Olaf Scholz (am Mikrofon) als Redner einer SED-Kundgebung im September 1987 (5)

Auf Einladung des Zentralrates war er am 7. Januar 1988 erneut in der DDR, um eine Foto-Ausstellung „Frauenbilder“ zu eröffnen. Im Mai 1988 fuhr Scholz ein weiteres Mal nach Ost-Berlin. Diesmal wollte er an einem von der FDJ organisierten Seminar teilnehmen, bei dem es um „Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zusammenarbeit junger Kommunisten und junger Sozialdemokraten“ bei der Friedenssicherung ging. Auch diese Einreise wurde von der Stasi den Grenzkontrolleuren avisiert. Das Visum sollte Scholz gebührenfrei erhalten, die Einreise ohne Zollkontrolle erfolgen.

Über den Verlauf des Seminars geben Unterlagen der FDJ genauer Auskunft. „Das Auftreten der Delegation“, hieß es anschließend in einem Bericht, „war geprägt vom offensichtlichen Willen, den erreichten Stand der Beziehungen zur FDJ konstruktiv fortzusetzen.“ In der Diskussion hätte Scholz die Überzeugung geäußert, „dass im Zuge der Entwicklung der sozialistischen Länder die sozialistische Demokratie Züge des bürgerlichen Parlamentarismus annehmen werde.“

Bei dieser Gelegenheit erklärte Olaf Scholz auch seine Bereitschaft, im Juni an einem „Internationalen Treffen für kernwaffenfreie Zonen“ in Ost-Berlin teilzunehmen. Den Stasi-Unterlagen zufolge war dies seine letzte Einreise in die DDR. Diesmal wurde der Vizechef der Jusos von den DDR-Oberen schon fast wie ein Staatsgast behandelt: Ein Mitarbeiter des Zentralkomitees holte den damals 30jährigen persönlich mit dem Auto am Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße ab.

Hinweis: Alle im Text erwähnten Dokumente lassen sich durch Anklicken der unterstrichenen Passagen im Original anzeigen.

Der Text erschien zu erst in: Focusonline vom 14. Januar 2022, aktualisiert am 29.01.2022.

Bildnachweis
(1) Andreas Gerhold / CC BY-SA 2.0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-19204-3311 / CC-BY-SA 3.0
(3) Privat
(4) Gerd Danigel , ddr-fotograf.de / CC BY-SA 4.0
(5) Eberhard Aurich

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