Das Landgericht Halle hat den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke zu einer Geldstrafe von 13.000 Euro verurteilt. Der Prozess wirft kein gutes Licht auf die Justiz in Sachsen-Anhalt – und auf die deutschen Medien.
Von Hubertus Knabe
Was tun gegen die AfD? Kaum ein anderes Thema beschäftigt deutsche Politiker und Journalisten so sehr wie dieses. Vor allem der bis vor Kurzem scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Partei in den Umfragen hat zu wachsender Nervosität geführt. Da die AfD im Osten Deutschlands besonders erfolgreich ist, könnte es dort zu schwierigen Regierungsbildungen kommen. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg finden im September Landtagswahlen statt, bei denen zwischen 26 und 34 Prozent der Wahlberechtigten für die AfD stimmen wollen.
In dieser Situation eröffnete das Landgericht Halle Mitte April einen Prozess gegen den Partei- und Fraktionschef der AfD in Thüringen, Björn Höcke. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, im Mai 2021 bei einer Wahlkampf-Veranstaltung in einer Rede den Satz „Alles für Deutschland“ verwendet zu haben. Wenige Tage danach hatte der innenpolitische Sprecher der Grünen in Sachsen-Anhalt, Sebastian Striegel, Strafanzeige erstattet. Doch es dauerte zwei Jahre, bis die Staatsanwaltschaft Halle Anklage erhob und ihm das „öffentliche Verwenden von Kennzeichen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation“ vorwarf. Fast ein weiteres Jahr verging bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung.
Dass ein Gericht viereinhalb Monate vor einer Wahl dem Spitzenkandidaten der stärksten Partei den Prozess macht, ist ein Novum in Deutschland. Anders als in den USA oder in Italien legte die deutsche Justiz bislang Wert darauf, sich nicht in politische Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen. Allein das Timing dürfte bei vielen AfD-Anhängern jedoch den Eindruck erwecken, dass es sich um ein politisches Verfahren handelt. Dass in Thüringen eine farbige Grünen-Politikerin Justizministerin ist, dürfte ihre Zweifel am unabhängigen Handeln der Justiz noch verstärken.
Auf Unverständnis stößt bei vielen auch der Anlass des Prozesses. Bis zur Eröffnung dürfte kaum jemand gewusst haben, dass die Losung „Alles für Deutschland“ auf den Dolchen der SA eingraviert war. Selbst der Spiegel, der Höcke zu Prozessbeginn vorwarf, „den Ahnungslosen“ zu geben, hatte noch im September 2023 eine Kolumne mit diesen Worten überschrieben. Nicht einmal 1952, sieben Jahre nach Kriegsende, fand es das Magazin anstößig, einen Artikel mit diesem Titel zu versehen. Wenn überhaupt, dürften historisch Interessierte den Kampfruf „Deutschland erwache!“ mit der SA assoziieren, da dieser bei Aufmärschen auf den Standarten stand.
Eine weit verbreitete Parole
Ob die Losung „Alles für Deutschland“ Kennzeichen der SA war, ist auch aus anderen Gründen fraglich. Schon im März 1848 benutzte sie der preußische König Friedrich Wilhelm IV, um dem weit verbreiteten Wunsch nach einem Ende der deutschen Kleinstaaterei Ausdruck zu verleihen. In der Weimarer Republik war „Nichts für uns – alles für Deutschland“ eine populäre Parole des sozialdemokratischen Reichsbanners Schwarzrotgold. Laut Recherchen des Berliner Rechtsanwalts Ansgar Neuhof wurde sie damals auch von anderen Parteien sowie von Gewerkschaften und Kirchen verwendet. Anders als die Liedzeile „Deutschland, Deutschland über alles“, gedichtet 1841, avancierte sie auch nie zu einem allgemein bekannten NS-Symbol.
Die Behauptung der Staatsanwaltschaft Halle, die Losung sei in Deutschland „verboten“, ist denn auch so nicht zutreffend. Nach Paragraph 86a Strafgesetzbuch wird zwar bestraft, wer „Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen“ in einer Versammlung verwendet, „die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen.“ Doch ob diese Bestimmung auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist, ist fraglich – auch wenn deutsche Medien die Behauptung seit Prozessbeginn massenhaft weiter verbreiteten.
Ob eine Parole dazu bestimmt ist, derartige Bestrebungen fortzusetzen, hängt nämlich von den Umständen ab – wie das Beispiel des Spiegels zeigt, gegen den nach gegenwärtigem Kenntnisstand bislang kein Staatsanwalt vorgegangen ist. Höcke sprach damals bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD, einer nicht verbotenen und zur Wahl zugelassenen Partei. Der inkriminierte Ausspruch war bei ihm zudem Teil eines Dreiklangs: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland.“ Darüber hinaus beteuerte Höcke während des Prozesses, er sei ein „rechtstreuer Bürger“ und habe keine Kenntnis von dem vermeintlichen Verbot gehabt.
Anders lag der Fall, als das Amtsgericht Hamm 2005 einen jungen Mann verurteilte, der ebenfalls den Satz verwendet hatte. Der Angeklagte gehörte einer neonazistischen Gruppe mit der Bezeichnung „Kameradschaft I“ an. Zudem hatte er einem 16-jährigen Mädchen mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Die Rede, die er mit dem Ausruf „Alles für Deutschland“ beendet hatte, hatte er laut Gericht auf einer Veranstaltung des „rechten Spektrums“ gehalten.
Als die Verhandlung stattfand, war der 18-jährige mit einer an Adolf Hitler erinnernden Frisur erschienen. Durch Bemerkungen hatte er zudem zu erkennen gegeben, dass er weiterhin in ähnlicher Weise öffentlich auftreten wolle. Schließlich hatte er bereits einen einwöchigen Dauerarrest hinter sich, der wegen Volksverhetzung gegen ihn verhängt worden war. Vor diesem Hintergrund kamen die Richter zu der Einschätzung, dass „ohne die nachhaltige erzieherische Einwirkung der Jugendstrafe weitere (gleichartige) Straftaten von Gewicht zu erwarten“ seien. Sie verurteilten ihn deshalb zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung.
Bestimmungen immer restriktiver
Seit diesem Urteil sind fast 20 Jahre vergangen, das NS-Regime liegt fast acht Jahrzehnte zurück. Die meisten Parolen der Nationalsozialisten sind inzwischen in Vergessenheit geraten, so dass die Rechtsprechung eigentlich immer milder werden müsste. Tatsächlich ist sie jedoch immer restriktiver geworden. Im Internet sind ganze Listen mit Formulierungen zu finden, die in Deutschland verboten seien.
1945 hatten die Alliierten lediglich untersagt, NS-Abzeichen weiterhin zu tragen. Nach Gründung der Bundesrepublik galten diese Bestimmungen unverändert fort. 1953 verbot dann das deutsche Versammlungsgesetz, „öffentlich oder in einer Versammlung Kennzeichen ehemaliger nationalsozialistischer Organisationen zu verwenden.“
1960 wanderte das Verwendungsverbot ins Strafgesetzbuch. Während es anfangs als Staatsschutzdelikt galt, rückte es später zu den Vereinigungsverboten, wo es mehrfach verschärft wurde. So ist seit 1968 auch untersagt, die Symbole verbotener Organisationen zu „verbreiten“. 1985 wurde zudem die Herstellung, Einführung und Vorrätighaltung unter Strafe gestellt. Seit 1994 sind auch solche Zeichen verboten, die dem Original „zum Verwechseln ähnlich“ sind.
Die Feststellung des Journalisten Johannes Gross, dass der Widerstand der Deutschen gegen Hitler immer stärker wird, je länger das Dritte Reich tot ist, gilt auch für Richter und Staatsanwälte. Die Bestimmungen des Paragraphen 86a wurden von ihnen immer weitgehender ausgelegt. Längst stehen nicht mehr nur Abzeichen, Uniformen und Uniformteile sämtlicher NS-Organisationen auf dem Index.
Wer im Zorn zu einem Polizisten ironisch „Heil Hitler“ sagt, muss sich laut Rechtsprechung ebenfalls auf ein Strafverfahren gefasst machen. Auch T-Shirts mit der (falschen) Losung „Die Fahne hoch“ sind verboten, desgleichen der Verkauf historischer Modellflugzeuge mit Hakenkreuzbemalung. Selbst das Tragen eines Hitler-Kostüms bei einem Faschingsumzug wurde zur Straftat erklärt.
Zweierlei Maß in der Rechtsprechung
Paradoxerweise – und das wird gerade im Osten Deutschlands aufmerksam registriert – gilt bei den kommunistischen Symbolen das Gegenteil: Der Umgang damit ist im Laufe der Jahrzehnte immer großzügiger geworden. Ostalgie-Partys, zu denen man im FDJ-Hemd erscheint, sind keine Seltenheit. Suppenkonserven mit DDR-Wappen tauchen regelmäßig in den Regalen ostdeutscher Supermärkte auf. Ebenso ungestraft rief die Journalistin Andrea Kiewel vor einigen Jahren im ZDF die SED-Parole aus: „Für Frieden und Sozialismus – seid bereit!“, woraufhin die Zuschauer wie in der DDR erwiderten: „Immer bereit!“.
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Zumindest die Symbole und Losungen von KPD und FDJ müssten jedoch genauso unter den Paragraphen 86a fallen wie die der Nationalsozialisten. Beide Organisationen wurden 1954 beziehungsweise 1956 höchstrichterlich verboten. Juristisch unzulässig sind seitdem unter anderem Hammer und Sichel, eine gelbe aufgehende Sonne auf blauem Grund sowie die Buchstaben „KPD“ und „FDJ“. Würde man das Strafgesetzbuch auslegen wie bei Höcke, müssten auch die erhobene rechte Faust und der Ruf „Rot Front“ strafrechtlich verfolgt werden.
Seit Ende der 1960er Jahre wurde das Verbot jedoch zunehmend aufgeweicht. Wenn linksradikale Splittergruppen in der Bundesrepublik mit Hammer und Sichel agitierten, schaute die Polizei darüber hinweg. 1970 wurde auch das Verbot der DDR-Flagge aufgehoben. Als Deutschland 1990 wiedervereinigt wurde, forderten SED-Opfer vergeblich, die Insignien des Kommunismus genauso aus der Öffentlichkeit zu verbannen wie die des Nationalsozialismus.
Auch die Justiz beurteilte die Symbole der beiden Diktaturen nach zweierlei Maß. Zwei Strafverfahren gegen linksextreme Demonstranten, die in Chemnitz und Dresden mit einer KPD-Fahne durch die Stadt marschiert waren, wurden wieder eingestellt. Hammer und Sichel seien nur dann strafbar, wenn sie sich auf die 1956 verbotene Partei und nicht auf eine Neugründung bezögen – eine Einschränkung, die es bei NS-Symbolen nicht gibt.
Mit einer ähnlichen Argumentation wurde auch das Verbot des FDJ-Symbols geschliffen. So sprach ein Berliner Gericht zwei Männer frei, die bei einer Gedenkveranstaltung für die Mauertoten im FDJ-Hemd erschienen waren. Zur Begründung hieß es, es sei unklar, ob es sich um das Symbol der verbotenen West-FDJ oder der nicht verbotenen DDR-FDJ handeln würde. Dass es immer nur eine einzige FDJ gab und diese in der Bundesrepublik Deutschland höchstrichterlich verboten ist, spielte keine Rolle.
Höcke bald vorbestraft?
Wenige Tage vor Prozessbeginn erhob die Staatsanwaltschaft Halle noch eine zweite Anklage gegen Höcke. Darin warf sie ihm vor, bei einer AfD-Veranstaltung in Gera im Dezember 2023 die Worte „Alles für“ ausgesprochen und das Publikum durch Gesten animiert zu haben, „Deutschland“ zu rufen. Dies habe er „in Kenntnis des gegen ihn wegen des Verwendens dieser Parole anhängigen Strafverfahrens und im sicheren Wissen um dessen Strafbarkeit“ getan.
Auf diese Weise wollte die Staatsanwaltschaft bei dem Prozess gleich über zwei Taten Höckes verhandeln. Das Gericht stimmte dem Antrag zunächst zu. Erst als Höckes Anwälte darauf hinwiesen, dass sie dann nur eine Woche Zeit hätten, sich mit den neuen Vorwürfen auseinanderzusetzen, wurde der Beschluss rückgängig gemacht. Der Prozess hätte ansonsten verschoben werden müssen, was offenkundig vermieden werden sollte.
Das Vorgehen gegen Höcke kurz vor den Landtagswahlen wirft kein gutes Licht auf die Justiz in Sachsen-Anhalt. Dabei wurde sie von der Mehrheit der großen Medien wochenlang angefeuert, so dass eine unbefangene Urteilssprechung kaum mehr möglich war. Vielen Journalisten fehlt offenbar die Einsicht, dass sich die Qualität einer Demokratie gerade im Umgang mit ihren Gegnern erweist. Einige spekulierten bereits, dass der AfD-Politiker zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden könnte – was zur Folge gehabt hätte, dass der Spitzenkandidat der AfD nicht mehr in den Landtag dürfte. Das Gericht sah sich deshalb schon kurz nach Beginn des Prozesses zu einer ungewöhnlichen Klarstellung veranlasst: „Sollte der Angeklagte verurteilt werden, kommt aus der Sicht der Kammer nach gegenwärtigem Stand eine Geldstrafe in Betracht,“ hatte eine Sprecherin Mitte April erklärt.
Dennoch forderte Staatsanwalt Benedikt Bernzen am gestrigen letzten Verhandlungstag für den thüringischen AfD-Chef eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung. Höckes Verteidiger Ralf Hornemann hielt ihm entgegen, nicht sein Mandant, sondern die Staatsanwaltschaft habe die Parole überhaupt erst bekannt gemacht. Das Landgericht Halle verurteilte den AfD-Politiker am Ende zu einer Geldstrafe von 13.000 Euro, womit Höcke als vorbestraft gilt. Da gegen das Urteil innerhalb einer Woche Revision eingelegt werden kann, ist es allerdings noch nicht rechtskräftig.
Schon kurz nach Prozessende begrüßte Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) das Urteil. „Das ist der Rechtsstaat, der hier funktioniert“, kommentierte er das Vorgehen der Justizbehörden, die bereits den nächsten Prozess gegen Höcke planen. Nach eigener Aussage will das Gericht schon in Kürze über die zweite Anklage verhandeln.
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