Spezialoperation und Frieden

Das kalte Gesicht des Krieges - Bilder von Wassili Wereschtschagin im Museum des Vaterländischen Krieges 1812 (1)

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine weckt Erinnerungen an das berühmteste Werk der russischen Literaturgeschichte. Doch von der patriotischen Stimmung in Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ ist in Putins Reich trotz aller Propaganda wenig zu spüren. Es lohnt sich in diesen Tagen, das Mammutwerk wieder zur Hand zu nehmen.

Von Hubertus Knabe

Der berühmteste Roman der russischen Literaturgeschichte hat einen neuen Namen: Seit Putins Überfall auf die Ukraine kursieren in Russlands sozialen Medien Bilder, die den Umschlag von Leo Tolstois Epos „Krieg und Frieden“ zeigen. Das erste Wort darauf ist durchgestrichen und durch den Begriff „Spezialoperation“ ersetzt.

Auf diese Weise machen sich die User über ein Verbot der russischen Regierung lustig, den Einmarsch in die Ukraine als Krieg zu bezeichnen. Obwohl Russland mehr als die Hälfte seiner Truppen in das Nachbarland entsandt hat und es mit Bomben- und Raketenangriffen überzieht, dürfen die gleich geschalteten Medien den Angriff nur als militärische „Spezialoperation“ bezeichnen. Selbst der vage Slogan „Kein Krieg“ (Нет войны), der in vielen Städten auf Demonstrationen zu sehen war und in den sozialen Medien weite Verbreitung fand, wurde von den Behörden massiv verfolgt.

„Spezialoperation und Frieden“ – Veränderter Buchumschlag von Leo Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ im Internet

Nur wenige Tage nach dem Angriff traten zu diesem Zweck in Russland mehrere Gesetzesänderungen in Kraft. So verbietet Artikel 20.3.3. des russischen Ordnungswidrigkeitengesetzes inzwischen „öffentliche Maßnahmen, die darauf abzielen, den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu diskreditieren.“ Ausdrücklich eingeschlossen sind darin „öffentliche Aufrufe, um den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation zu verhindern“. Bei Verstößen drohen Geldstrafen von bis zu einer Million Rubel (ca. 12000 Euro). Im Wiederholungsfall kann die Tat laut Artikel 280.3. des novellierten Strafgesetzbuches sogar mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Zusätzlich drohen nach Artikel 207.3 bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug für die „öffentliche Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation“ – wobei die Auslegung, was „falsch“ ist, durch den gleichgeschalteten Staat erfolgt. Viele Russen haben deshalb ihre kritischen Kommentare zum Ukraine-Krieg in den sozialen Medien lieber wieder gelöscht.

Krieg gegen das „Brudervolk“

Ob es dem Kreml auf diese Weise gelingt, für den Angriff auf das Nachbarland anhaltende Zustimmung in der Bevölkerung zu erzeugen, ist dennoch zweifelhaft. Russische Umfragen, nach denen 81 Prozent der Befragten das Vorgehen unterstützen würden, sind schon deshalb wenig aussagekräftig, weil eine gegenteilige Antwort gegen das neue Recht verstoßen würde. Noch im Dezember 2021 hielten dagegen nur neun Prozent der Befragten die Ukraine für ein feindliches Land. Auch die ukrainische Bevölkerung betrachteten nur elf Prozent als feindlich gesonnen, während eine Mehrheit von 52 Prozent brüderliche Gefühle hegte. Tatsächlich gibt es zwischen Russen und Ukrainern zahllose verwandtschaftliche Beziehungen.

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Auch die wirtschaftlichen Folgen – vor allem massive Preissteigerungen und der Wegfall vieler ausländischer Produkte – machen sich bereits jetzt im Alltag bemerkbar. Seit der Invasion wurden Grundnahrungsmittel um bis zu 80 Prozent teurer. Der Rubel hat sich zwar wieder von seinem Absturz Ende Februar erholt, doch darf er – wie zu Sowjetzeiten – nicht mehr in Devisen getauscht werden. Selbst wer ein Devisen-Konto besitzt, kann davon nur noch bis zu 10.000 Dollar Bargeld abheben. Vor allem aber vergrößert sich von Tag zu Tag die Zahl verzweifelter Eltern, die den Kontakt zu ihren Söhnen verloren haben. Obwohl die russische Armee die Leichen ihrer Gefallenen offenbar einfach liegen lässt oder vor Ort verbrennt, ist auch in Russland kaum mehr zu übersehen, dass die „Spezialoperation“ doch ein blutiger Krieg ist.

Und zum Krieg haben die meisten Russen ein äußerst emotionales Verhältnis. Jedes Jahr am 9. Mai erinnern Umzüge und Paraden an den „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Praktisch jede Familie hat Tote oder in Zwangsarbeit Verschleppte zu beklagen, deren Fotos bei Gedenkveranstaltungen wie den Märschen des sogenannten „Unsterblichen Regiments“ hochgehalten werden. Auch in der Sowjetunion stand die Erhaltung des Friedens jahrzehntelang im Mittelpunkt der Propaganda. Noch vor wenigen Wochen erschien den meisten Russen deshalb ein Krieg gegen das ukrainische „Brudervolk“ unvorstellbar.

Tote oder Verschleppte in jeder Familie – Umzug des „Unsterblichen Regiments“ am 9. Mai 2019 in Donezk (2)

In Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ war das noch deutlich anders. Damals zeigte sich Russland ausgesprochen patriotisch. Auch Zar Alexander genoss die unbedingte Unterstützung eines Großteils der Bevölkerung. Gleichwohl zeigte die russische Armee Schwächen, die in mancher Beziehung an die Schwierigkeiten erinnern, die sie derzeit in der Ukraine hat.

Wer „Krieg und Frieden“ zur Hand nimmt, muss sich auf eine lange Lektüre gefasst machen. Die preisgekrönte und exzellente Neuübersetzung von Barbara Conrad umfasst 2288 Seiten. Rund 250 Personen tauchen darin auf, die mal mit Vor-, mal mit Nachnamen vorgestellt werden, so dass es nicht ganz einfach ist, den Überblick zu behalten (eine Übersicht der wichtigsten Personen im Anhang hilft dabei). Zudem ist das Werk von französischem Smalltalk durchzogen, wie er in höheren russischen Kreisen damals Mode war, was Tolstoi damit auf die Schippe nimmt. Belohnt wird der Leser nicht nur durch die spannende Schilderung dramatischer historischer Ereignisse, sondern auch durch einen tiefen Einblick in das zaristische Russland des frühen 19. Jahrhunderts.

Kampf gegen Napoleon

Der Roman, der in der Zeit der Napoleonischen Kriege spielt, beginnt im Jahr 1805, als sich Russland mit England, Österreich und Schweden gegen Frankreich verbündete. Der junge, militärisch begabte General Napoleon Bonaparte, der sich selbst zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, bewirkte damals durch revolutionäre Ideen und eine neue Form der Kriegsführung, dass Frankreich immer mächtiger wurde. Auch Russland erlitt gegen ihn schwere militärische Niederlagen, so dass es 1807 den Frieden von Tilsit schloss, der Europa in eine französische und eine russische Interessensphäre aufteilte.

Schwere militärische Niederlagen – Napoleon (l.), Zar Alexander I. und das preußische Königspaar 1807 in Tilsit (3)

Gleichwohl marschierte Napoleon fünf Jahre später mit mehr als 600.000 Soldaten in das Zarenreich ein – ein Trauma, das mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist. Obwohl die Franzosen bis nach Moskau kamen, das damals durch einen Brand mit Tausenden Toten weitgehend zerstört wurde, endete der Feldzug mit einer der größten militärischen Katastrophen der Geschichte: Der einbrechende Winter, der Mangel an Nahrung und russische Guerillaattacken sorgten dafür, dass die „Grande Armee“ am Ende fast vollständig aufgerieben wurde.

Diese dramatischen Ereignisse lässt Tolstoi wiederaufleben, indem er im Stil des Realismus den militärischen Alltag und die wichtigsten Schlachten schildert. Das einfache Soldatenleben wird dabei ebenso anschaulich wie das Verhalten der Offiziere und Heerführer im Kampf oder bei Lagebesprechungen. Zitate aus zeitgenössischen Briefen, Dokumenten und Berichten verleihen der Darstellung zusätzliche Authentizität. Auch die großen handelnden Personen dieser Zeit wie Napoleon, Zar Alexander oder Generalfeldmarschall Fürst Michail Kutusow, der 1812 den Oberbefehl über die russischen Truppen bekam, treten auf. Allein der blutigen Schlacht von Borodino, bei der rund 100 Kilometer westlich von Moskau rund 80.000 Menschen ums Leben kamen, widmet Tolstoi über einhundert Seiten. Die Realität des Krieges ungeschönt abzubilden, macht sein Werk heute wieder unerwartet aktuell.

Den eigentlichen Handlungsstrang des Romans bildet freilich das vielfach miteinander verwobene Leben dreier russischer Adelsfamilien mit ihren zahlreichen Familienmitgliedern. Tolstoi beschreibt ihren Alltag im Frieden, indem er ausführlich Empfänge und Familienfeste, Geburten und Sterbeszenen, Jagden und Schlittenfahrten und zahlreiche weitere Ereignisse schildert. Das höfische Leben in Moskau und Sankt Petersburg wird dabei ebenso lebendig wie das eintönige Dasein auf den entlegenen Landgütern im zaristischen Russland, in denen Reformen, wie sie Tolstoi einst selbst auf seinem Gut versuchte, an der Unvollkommenheit der Menschen scheitern. Liebe und Freundschaft, Berechnung und Intrigen bestimmen die Beziehungen zwischen den handelnden Personen und verleihen dem Roman eine Dynamik, der man sich nur schwer entziehen kann.

Berechnung und Intrigen – Gemälde eines Balls im Sankt Petersburger Winterpalast 1873 von Mihaly von Zichy (4)

Tolstoi, der sich ab dem dritten Band als Erzähler immer häufiger selbst zu Wort meldet, demontiert in seinem Roman die bis dahin übliche Darstellung des Krieges als Werk großer Helden. Stattdessen schildert er den Verlauf der Geschichte als Schicksal, auf das die Protagonisten kaum Einfluss haben. Zugleich rückt er die Suche des Einzelnen nach Glück und Verwirklichung ethischer Ideale in den Mittelpunkt. Vor allem aber lässt er keinen Zweifel daran, mit wie viel Leid der Krieg verbunden ist.

Fixe Idee eines Despoten

Eine Schlüsselszene dafür findet sich gleich im ersten Teil des Buches. Der junge Nikolaj Rostow, der aus Begeisterung für den Krieg die Universität verlassen hat und zur Armee gegangen ist, bemerkt während eines Angriffs der Franzosen, wie ein Husar neben ihm stöhnend zusammensinkt. Plötzlich wird ihm bewusst, wie schön der Himmel ist, wie hell und feierlich die untergehende Sonne, wie freundlich-glänzend das Wasser der Donau. „Noch einen Augenblick – und ich sehe vielleicht diese Sonne, dieses Wasser und diese Schluchten nie wieder“, fährt es ihm durch den Kopf. Und voller Angst, dass sein junges Leben schon zu Ende gehen könnte, flüstert er: „Herr Gott, der du im Himmel bist, errette mich, vergib mir und beschütze mich.“

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass es den jungen russischen Soldaten in der Ukraine derzeit nicht viel anders geht. Doch anders als bei den Russland-Feldzügen Napoleons und Hitlers geht es diesmal nicht um die Verteidigung des Vaterlandes vor einem fremden Angreifer, sondern um die fixe Idee eines Despoten, ein nach Unabhängigkeit strebendes Nachbarland zu unterwerfen. Viele Russen beschleichen deshalb Zweifel, dass dieser Krieg gerechtfertigt ist.

In Tolstois Roman finden sie dafür gute Argumente. In einem Brief bringt zum Beispiel die Tochter des Fürsten Bolkonski ihre Zweifel über den „unseligen Krieg (…), in den wir Gott weiß wie und warum hineingezogen worden sind“ zu Papier. Anlass dafür ist, dass in ihrem Dorf ein Trupp Rekruten ausgehoben wurde. „Es war entsetzlich, den Zustand der Mütter und Kinder dieser Leute mit anzusehen und das Schluchzen der einen wie der anderen zu hören,“ schreibt sie. Und sie fährt fort: „Man möchte sagen, die Menschheit habe die Gesetze ihres göttlichen Erlösers vergessen, der die Liebe gepredigt und Beleidigungen zu verzeihen geboten hat. Denn es scheint, als sähen die Menschen die Kunst, einander zu morden, jetzt als größtes und hauptsächliches Verdienst an.“

Der Text erschien zuerst in: Tichys Einblick, Ausgabe 05/2022 (aktualisiert am 24.04.2022).

Bildnachweis
(1) shakko / CC BY-SA 3.0 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1812_by_Vereshchagin_(Museum_of_Patriotic_War_1812)_01_by_shakko.jpg
(2) Andrew Butko / CC BY-SA 3.0
(3) Nicolas Gosse, Public domain
(4) Mihály Zichy, Public domain

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