Linken-Politiker treten in der Öffentlichkeit gern besonders angriffslustig auf. Kritik an der politischen Konkurrenz erfolgt meistens aggressiv und von oben herab. An das eigene Handeln werden indes andere Maßstäbe angelegt. Hier wird großzügig über Versäumnisse und Fehler hinweggesehen. Vier Beispiele für linke Doppelmoral.
Von Hubertus Knabe
In diesen Tagen macht die Linkspartei einmal wieder von ihrer Lieblingsmethode Gebrauch – kräftig auszuteilen, um von eigenen Fehlern und Versäumnissen abzulenken. Dieser schon zu DDR-Zeiten praktizierte Kniff aus der Mottenkiste politischer Propaganda erweist sich offenbar auch heute noch als wirksam.
Meister dieser Technik ist immer noch der heimliche Dauervorsitzende der Linkspartei, Gregor Gysi. 30 Jahre nach dem Sturz der SED-Diktatur lässt er sich derzeit bei diversen Jubiläumsveranstaltungen als Star der Friedlichen Revolution feiern. Nach Auftritten bei der Berliner Zeitung und der Baden-Württembergischen Staatsbank ist er diese Woche beim Göttinger Literaturherbst eingeladen – als Auftakt zum Schwerpunkt „30 Jahre Mauerfall“.
Für Kenner der DDR-Geschichte sind Gysis Auftritte erstaunlich. Denn 1989 stand der einstige Spitzenkader der SED auf der anderen Seite der Barrikade. Er durfte zwar, wie der Göttinger Veranstalter anführt, auf der legendären Großdemonstration vom 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz sprechen. Doch was er dort sagte, war alles andere als ein Aufruf zum Umsturz: Er bezeichnete die DDR-Verfassung als „gut“, verteidigte die führende Rolle der SED und warb um Vertrauen für den neuen Staats- und Parteichef Egon Krenz.
Einen Monat später ließ sich Gysi auf einem Parteitag sogar selbst zum SED-Vorsitzenden wählen. Erfolgreich verhinderte er damals die von vielen Mitgliedern geforderte Auflösung der DDR-Staatspartei. Mit Nachdruck setzte er sich zudem für die wegen ihrer Verfolgungspraktiken verhassten Stasi-Mitarbeiter ein – sie sollten als DDR-„Verfassungsschutz“ weiterarbeiten. Entschieden wandte er sich auch gegen den Wunsch nach einem Ende der deutschen Teilung. „Großdeutschland“, wie sich Gysi ausdrückte, wäre „ein Sieg der Rechten“ und die „unwürdige Verabschiedung von einem Land, das trotz alledem den geachteten Namen Deutsche Demokratische Republik trägt.“
Lesen Sie hier, wie Gregor Gysi 1989 die SED vor dem Untergang rettete.
Wer erwartet, Gregor Gysi würde inzwischen mit Selbstkritik oder Scham auf seine Rolle im Jahr 1989 blicken, sieht sich enttäuscht. Vor einem meist wenig informierten Publikum teilt er stattdessen gegen andere aus – vor allem gegen die böse Bundesregierung, die damals, so Gysi bei einem seiner jüngsten Auftritte, „den Fehler beging, dass sie nicht aufhören konnte zu siegen.“ Aus diesem Grund hätte sich die Wut der Ostdeutschen nach einiger Zeit gegen den Westen gedreht. Nicht die SED war demnach verantwortlich für die maroden Industriebetriebe, die auf dem Weltmarkt keine Chance hatten und deshalb Konkurs gingen – sondern die Bundesrepublik, die das vergiftete Erbe übernehmen musste.
Methode „Frechheit siegt“
Nach der Methode „Frechheit siegt“ hat Gysi auch sonst gerne agiert. Ein Lehrstück dafür war seine Reaktion auf den Fund von Stasi-Unterlagen, die ihn schwer belasteten. Statt seine Ämter niederzulegen, tat er so, als wäre nichts gewesen. Selbst zu Spitzelberichten, die die Vier-Augen-Gespräche mit seinen Mandanten in Ich-Form wiedergaben, erklärte er, er könne ja damals abgehört worden sein. Wie die Stasi das Lächeln eines Mandanten, von dem in einem der Berichte die Rede ist, abgehört haben soll, bleibt bis heute Gysis Geheimnis.
In ähnlicher Weise agiert auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch. Als Bundesschatzmeister der PDS – wie sich die SED seit 1990 nannte – war er maßgeblich dafür verantwortlich, den Verbleib ihres riesigen Vermögens zu verschleiern. Mit Strohmännern, getürkten Darlehen, fingierten Rechnungen und rückdatierten Spenden hatte die Partei unter ihrem Vorsitzenden Gysi mehrere Milliarden Mark verschwinden lassen. Bei einer Durchsuchung der PDS-Zentrale wurde unter anderem ein Schreiben gefunden, in dem Gysi Bartsch aufforderte, Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen nicht offiziell zu verbuchen, sondern „wie bisher bar“ zu verwenden – auf gut Deutsch: sie als Schwarzgeld einzusetzen. Jahrelang bemühte sich eine Untersuchungskommission, das SED-Vermögen wieder zu finden. Allein die Suche danach kostete den Steuerzahler mehr als 130 Millionen Euro.
Vergangenen Monat beantragte derselbe Dietmar Bartsch im Bundestag, einen Untersuchungsausschuss zu bilden. Die Linksfraktion will nicht etwa aufklären, wo die verschollenen SED-Milliarden geblieben sind, sondern die Arbeit der Treuhandanstalt untersuchen – wozu es bereits zwei Untersuchungsausschüsse gab und erst im vergangenen Jahr eine umfassende Studie erschien. Unterstützt wird sie dabei von einer Partei, deren Vertreter sie sonst gerne als „Nazis“ tituliert, der AfD.
Im Einklang mit der AfD begründet die Fraktion ihren Vorstoß damit, dass es eine erhebliche wirtschaftliche und soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland gebe – für die die Treuhand verantwortlich sei und nicht die Misswirtschaft der SED. „Durch die Treuhandanstalt sind Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet worden,“ behauptete Bartsch in einer Erklärung. „Es wurde Missmanagement auf Kosten der Steuerzahler betrieben.“ Auch so kann man von der eigenen Verantwortung ablenken.
Kein Anlass für Überheblichkeit
Ihre Vergangenheit holt auch andere Linken-Politiker öfters mal ein – zum Beispiel Thomas Nord, Bundestagsabgeordneter und langjähriger Landesvorsitzende seiner Partei in Brandenburg. Bei Twitter zog er kürzlich über seinen Parlamentarierkollegen Philipp Amthor (CDU) her, den zweitjüngsten Abgeordneten im Bundestag. In einem inzwischen gelöschten Tweet schrieb er zu einem Foto, Amthor „ist erst 26, aber trotzdem klar erkennbar so alt wie Helmut Kohl“ – der vor zwei Jahren verstorben ist. Der Journalist Timo Lokoschat nahm dies zum Anlass, daran zu erinnern, was Nord in Amthors Alter gemacht hat: als Stasi-Mitarbeiter Jugendliche bespitzelt.
Blättert man in Nords Stasi-Akte, besteht tatsächlich kein Anlass zu Überheblichkeit. Mit 19 Jahren verpflichtete sich Nord freiwillig zur DDR-Armee, wo er die Fluchtabsichten eines Kameraden verriet. Mit 23 wurde er Leiter eines Ost-Berliner Jugendklubs und denunzierte als Stasi-Spitzel reihenweise Jugendliche und Kollegen. 1984 stieg er zum hauptamtlichen FDJ-Funktionär, 1989 zum Mitarbeiter einer SED-Kreisleitung auf. Zu Recht bescheinigte ihm die Stasi, dass er ein „gefestigtes Feindbild“ besäße und sich gegenüber feindlichen Einflüssen „konsequent abweisend“ verhielte.
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Auf eine ähnliche Biographie blickt auch der Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm zurück. Sieben Jahre lang spionierte er für den Staatssicherheitsdienst und forschte unter anderem den Liedermacher Wolf Biermann aus. Allerdings tat er dies im freien Westen – was die Sache nicht besser, sondern schlimmer macht. Er berichtete auch über die Jungsozialisten, den SPD-Bezirk Hessen-Süd, die Universität Frankfurt, das Bundesforschungsministerium, die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte sowie linke Künstler und politische Gruppierungen.
Anders als Nord leugnete Dehm jedoch später seine Stasi-Vergangenheit. In einer Eidesstaatlichen Erklärung versicherte er treuherzig: „Ich war niemals ‚Stasi-Mitarbeiter‘“. Der damaligen Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach ließ er sogar per Gerichtsentscheid untersagen, ihn als solchen zu bezeichnen. Als 1996 seine Akte auftauchte, setzte sich auch die jüngst zurückgetretene SPD-Vorsitzende Andrea Nahles für ihn ein und erklärte: „Wenn Stasi-Akten zum Maulkorb für politische Linke werden, hat die Stasi zum zweiten Mal mit furchtbarer Wirkung gewonnen.“ Doch Steinbach ließ den Prozess wieder aufleben – und gewann.
Dreistes Politikerverhalten
Seine Niederlage vor Gericht hat Dehm keineswegs zu mehr Demut veranlasst. Im Gegenteil: Auch in der eigenen Partei ist er für seine exaltierten Ausfälle geradezu berühmt-berüchtigt. Vergangenes Jahr sah sich sogar Linken-Chef Bernd Riexinger genötigt, sich von ihm zu distanzieren. Dehm hatte Außenminister Heiko Maas als „NATO-Strichjungen“ bezeichnet. Statt sich für seine Wortwahl zu entschuldigen, verteidigte der Linken-Abgeordnete diese anschließend noch als sprachlichen „zivilen Ungehorsam“. Auf die massive öffentliche Kritik entgegnete er lediglich: „Ich hätte besser NATO-Strichmännchen sagen sollen, damit sich sonst niemand diskriminiert fühlt.“
Gysi, Bartsch, Nord, Dehm – vier Beispiele für linke Doppelmoral. Wie es scheint, gibt es sogar einen kausalen Zusammenhang zwischen eigenen Verfehlungen und überzogener Kritik an anderen. Denn Politiker mit einem intakten moralischen Wertesystem bevorzugen es, selbst im Streit mit politischen Gegnern sachlich zu bleiben. Insofern ist man gut beraten, bei denen, die besonders lautstark über andere herziehen, besonders misstrauisch zu sein.
Dass die Bremer Grünen sich jetzt dafür entschieden haben, mit der Partei von Gysi und Co eine Regierung bilden zu wollen, könnte der Partei deshalb noch auf die Füße fallen. Denn wer grün wählt, legt häufig besonders strenge Maßstäbe an die Politik an. Sollten die Grünen die ehemalige Staatspartei der DDR nun erstmals in einem westdeutschen Bundesland an die Macht bringen, könnte dies viele Wähler verschrecken, vor allem mit Blick auf eine von manchen bereits herbeigeträumte grün-rot-rote Koalition auf Bundesebene. Der Höhenflug der Öko-Partei könnte deshalb ebenso schnell wieder zu Ende sein, wie er begonnen hat – denn wer möchte schon gern, dass Dreistigkeit siegt.
Der Beitrag erschien in ähnlicher Form am 9. Juni 2019 in „Welt am Sonntag“ und am 12. Juni 2019 bei welt.de.
(1) Bundesarchiv, Bild 183-1990-0318-042 / Senft, Gabriele / CC-BY-SA 3.0
(2) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:WLP14-ri-0089-Thomas_Nord(Die_Linke),_MdB.jpg
(3) Bundesarchiv, Bild 183-1989-1201-046 / Waltraud Grubitzsch (geb. Raphael) / CC-BY-SA 3.0
(4) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Diether_Dehm_in_Hannover_(7064255615).jpg (Ausschnitt)