Mord am Bahnhof Friedrichstraße

Aus dem Hinterhalt erschossen - Wartende vor der Passkontrolle am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße (1)

Vor 50 Jahren wurde in Berlin der 38jährige Czesław Kukuczka vom DDR-Staatssicherheitsdienst erschossen. Doch das Interesse der Justiz, den Täter zu bestrafen, hält sich in Grenzen. Ein Prozessbericht.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Schon der erste Kontakt zum Berliner Landgericht gestaltet sich schwierig. Auf die Bitte, am Prozess gegen Manfred N. teilzunehmen können, antwortet Pressesprecherin Lisa Jani erst gar nicht und dann ablehnend. In mehreren Emails beruft sie sich auf ihre Vorschriften, um schließlich mitzuteilen, dass sie im Urlaub sei und auf weitere Nachfragen erst nächste Woche zurückkommen könne. Der Berichterstatter muss deshalb auf der Zuschauerbank Platz nehmen.

Was dann folgt, ist ein Crashkurs über die behäbige Praxis der Berliner Strafjustiz: eine stumme Staatsanwältin, ein schlecht vorbereiteter Richter und der mehrfach geäußerte Wunsch, die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen. Nach nicht einmal vier Stunden ist der Verhandlungstag schon wieder zu Ende.

Dabei geht es an diesem Donnerstag um nichts Geringeres als einen Stasi-Mord. Vor 50 Jahren, am 29. März 1974 gegen 15 Uhr, streckte ein Offizier des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit einen nichts ahnenden Polen am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstrasse mit einem Schuss in den Rücken nieder. Das schwer verletzte Opfer, der damals 38jährige Czesław Kukuczka, wurde ins zehn Kilometer entfernte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gefahren. Am Abend verblutete der Vater dreier Kinder im dortigen Haftkrankenhaus.

Am Abend verblutet – Foto von Czeslaw Kukuczka im Fenster des Gedenkens an der Bernauer Straße in Berlin (2)

Von hinten in den Rücken

Um den Mord zu vertuschen, dichtete die Stasi dem Toten einige Tage später eine Pistole an. Angeblich hätte er damit auf zwei Grenzsoldaten geschossen, die daraufhin das Feuer erwidert hätten. Mit einer „Bauchschussverletzung“ sei er in ein Krankenhaus eingeliefert worden. In Wirklichkeit, so belegt der Obduktionsbericht der Charité, war die Kugel von hinten in den Rücken eingedrungen.

Als wäre dieser Ablauf nicht schon dramatisch genug, hatte der tödliche Schuss noch eine Vorgeschichte: Gegen 12:30 Uhr war Kukuczka nämlich in der polnischen Botschaft erschienen, wo er damit drohte, sich und das Gebäude in die Luft zu sprengen, wenn man ihn nicht in den Westen ließe. Auf seinem Schoss lag eine, wie es in einem Aktenvermerk heißt, „geschlossene, vollgepackte Aktentasche, aus der eine Schlinge hervorragte.“ Später stellte sich heraus, dass sich in der Tasche nur ein Hydrantendeckel und ein paar andere nutzlose Gegenstände befanden.

Die polnische Botschaft alarmierte damals die Stasi – die so tat, als würde sie sich auf die Forderung einlassen. In Wirklichkeit hatte Vize-Minister Bruno Beater den Befehl erteilt, Kukuczka „nach Möglichkeit außerhalb des Gebäudes der Botschaft der VR Polen unschädlich zu machen.“ Zu diesem Zweck fuhr ihn ein Stasi-Offizier zur Eingangshalle des Grenzübergangs, wo er die Kontrolle zunächst unbehelligt passieren durfte – bis der Schuss ihn niederstreckte.

„Außerhalb des Gebäudes unschädlich machen“ – Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Bruno Beater (3)

Der mutmaßliche Schütze sitzt an diesem Donnerstag schweigend im Saal 142 des Kriminalgerichts in Moabit, geschützt durch eine Glaswand, die den Zuschauerraum abtrennt. Mit unbeweglichem Gesicht verfolgt der drahtige Pensionär den zweiten Verhandlungstag. Schon zum Prozessauftakt hatte seine Verteidigerin erklärt, ihr Mandant bestreite den Tatvorwurf.

Dass der heute 80jährige überhaupt vor Gericht steht, ist kein Verdienst der Berliner Justiz. Wartende, die zufällig Zeugen der Erschießung geworden waren, hatten bereits 1974 bei der Erfassungsstelle Salzgitter ausgesagt. Nach dem Ende der DDR wurden auf dieser Grundlage Ermittlungen eingeleitet, die jedoch bald wieder eingestellt wurden.

Als Ermittler 1999 auf das Obduktionsgutachten stießen, wurde das Verfahren wieder aufgerollt. Die Staatsanwaltschaft vermutete zu Recht, dass der Tote der Mann wäre, auf den am Grenzübergang geschossen worden war. Doch auch diese Ermittlungen wurden nach sechs Jahren wieder eingestellt, da „eine Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr möglich“ sei.

„Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr möglich“ – Gebäude des Berliner Kriminalgerichts in der Turmstraße (4)

Für die Tat belobigt

Dabei lag in der Stasi-Unterlagen-Behörde eine Akte, die detailliert über das Geschehen Auskunft gibt. Der Leiter der Abteilung X, zuständig für internationale Beziehungen, hatte noch am Tag der Erschießung einen ausführlichen Bericht verfasst. Als Historiker 2013 darauf stießen, machte die Behörde die Staatsanwaltschaft sogar schriftlich darauf aufmerksam. Doch Manfred N. blieb unbehelligt – sogar dann noch, als Unterlagen gefunden wurden, die ihn für die Tat belobigten.

Erst als ein polnisches Gericht 2021 einen Europäischen Haftbefehl erließ, wurde die Berliner Justiz aktiv. Statt dem Auslieferungsbegehren aus Warschau zu entsprechen, erhob die Staatsanwaltschaft im November vergangenen Jahres selber Anklage. Mitte März wurde der auf sieben Verhandlungstage angesetzte Prozess gegen den früheren Stasi-Mitarbeiter schließlich eröffnet, im Mai soll das Urteil verkündet werden.

An diesem 4. April, dem zweiten Verhandlungstag, sollen gleich mehrere Zeugen vernommen werden. Der erste ist ein ehemaliger Kraftfahrer der Stasi, der kurz nach Kukuczkas Erschießung zusammen mit anderen Beteiligten ausgezeichnet wurde. Er berichtet, dass er gerade einen Lkw repariert habe, als ihn sein Chef angewiesen habe, mit einem Krankenfahrzeug der Stasi einen Verletzten vom Bahnhof Friedrichstraße nach Hohenschönhausen zu bringen. „Ich hatte noch nie einen Krankenwagen gefahren,“ erklärt er, „ich wusste nicht einmal, wie man die Trage rausnimmt.“

Haftkrankenhaus im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Die Stasi behandelte hier etwa 3000 Gefangene.
„Ich hatte noch nie einen Krankenwagen gefahren“ – Ehemaliges Haftkrankenhaus in Berlin-Hohenschönhausen (5)

Auf Nachfragen bezeugt der 89-jährige, dass der Angeschossene am Grenzübergang nicht verbunden worden sei. „Er hatte Schmerzen und hat gestöhnt.“ Ein Sanitäter sei nicht im Fahrzeug gewesen. Dass ihn sein oberster Chef, Stasi-General Heinz Fiedler, später auszeichnete, habe ihn selbst gewundert. „Normalerweise ist das eine Arbeit, für die man keinen Orden bekommt.“ Fiedler nahm sich 1993 in der Untersuchungshaft das Leben, weil er auch für einen Giftanschlag auf den Fluchthelfer Wolfgang Welsch verantwortlich gemacht wurde.

Zwei weitere Zeugen, die an diesem Donnerstag vernommen werden, standen vor 50 Jahren in der Warteschlange am Grenzübergang. Die damals 15-jährigen Mädchen waren in Berlin zur Klassenfahrt gewesen und hatten auch den Ostteil der Stadt besucht. Dass sie ausfindig gemacht werden konnten, ist ihrem Klassenlehrer zu verdanken, der in ihrer Heimatstadt Bad Hersfeld die Bild-Zeitung informiert hatte. Schon kurz nach dem Vorfall wurden ihre Erinnerungen deshalb polizeilich protokolliert.

Vor allem die zweite Zeugin, eine pensionierte Lehrerin, kann sich auch heute noch sehr genau an den Hergang erinnern. „Wir standen in einer Reihe. Vor mir stand meine Klassenkameradin und vor ihr ein Mann mit Aktentasche,“ berichtet sie. Als der Mann die Kontrolle passiert habe, habe die Abfertigung der Schlange auf einmal gestockt. „Hannas Pass wurde nicht zurückgegeben.“

„Hannas Pass wurde nicht zurückgegeben“ – Ehemaliges DDR-Kontrollhäuschen im Berliner Tränenpalast (6)

Einige Meter weiter, im Durchgang zum Bahnhof, habe sie damals noch einen zweiten Mann gesehen, der immer in ihre Richtung geschaut habe. Er sei von einer zur Seite geschobenen Tür verdeckt gewesen, doch habe man ihn durch das drahtdurchflochtene Glas gut erkennen können. Er habe einen dunklen Mantel und eine Sonnenbrille getragen, „was ich verwunderlich fand, weil wir ja unter der Erde waren.“

Plötzlich eine Pistole gezückt

Als der Mann mit der Aktentasche in den Durchgang getreten sei, habe der mit der Sonnenbrille plötzlich eine Pistole gezückt und von hinten auf ihn geschossen. „Der Mann fasste sich mit der Hand an den Rücken und fiel zu Boden. Dann ging die Tür zu und ein Sichtschutz wurde davor gestellt.“ Sie und die anderen Wartenden seien daraufhin durch einen anderen Durchgang geschickt worden. „Das war wie im Science Fiction: Dass man da jemanden hinstellt, der dem anderen einfach in den Rücken schießt,“ sagt sie über das Erlebnis, das ihr Familienbesuche in der DDR hinfort zur Qual machte. „Schließlich kannten die mein Gesicht und wussten, dass ich es gesehen hatte.“

Die Vernehmung der beiden Zeuginnen dreht sich über weite Strecken um die Örtlichkeiten im Bahnhof Friedrichstraße. Richter Bernd Miczajka zeigt dazu Fotos, die die Stasi-Unterlagen-Behörde zur Verfügung gestellt hat, die aber nicht aus dem Jahr 1974 stammen und nachweislich unvollständig sind. Er spekuliert, welche Bilder wohl die passenden sein könnten und aus welchem Material die Türen zu dem Durchgang gewesen seien. Ein Gutachten zu den Baulichkeiten am Grenzübergang wurde offensichtlich nicht in Auftrag gegeben, auch eine Ortsbegehung scheint nicht geplant.

Ortsbegehung nicht geplant – Rekonstruierter Übergang vom Berliner Tränenpalast zum Bahnhof Friedrichstraße (7)

Überhaupt fällt ins Auge, dass das Gericht nur unzureichend auf diesen Prozess vorbereitet ist. Die Hauptabteilung VI, die die Exekution durchgeführt hat, wird zur einfachen Abteilung erklärt, ein wichtiges Stasi-Dokument wird mit einer falschen Jahreszahl angegeben, die in Schnipsel zerrissenen Unterlagen werden mit Akten verwechselt, die noch nicht ordentlich archiviert wurden. Erst jetzt, am zweiten Verhandlungstag, kommt der Richter auf die Idee, bei der Stasi-Unterlagen-Behörde nach den übrigen Personen zu fragen, die nach Kukuczkas Erschießung ebenfalls einen Orden erhielten.

Vor allem aber irritiert, wie eilig es der Richter hat. Als der Vertreter der Nebenklage beantragt, dem Kraftfahrer einen Anwalt zur Seite zu stellen, da auch gegen ihn ermittelt werde, verweist das Gericht auf den „sehr fragilen Terminstand“ und lehnt den Antrag ab. Und als derselbe Vertreter später darum bittet, drei Schlüsseldokumente zu verlesen, weil die Verhandlung wegen ihrer Bedeutung aufgezeichnet werde, erklärt Richter Miczajka: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Aufzeichnung historischer Vorgänge zu gewährleisten.“ Gegen 14 Uhr verkündet das Gericht, dass alle eingeführten Dokumente „im Selbstleseverfahren“ zur Kenntnis genommen werden müssten. Weder Zuschauer noch spätere Generationen können so ihren Inhalt erfahren. Und dann wird die Sitzung auch schon geschlossen. Die Staatsanwältin hat während der Zeugenvernehmungen fast durchgehend geschwiegen. Am 18. April, so kündigt Richter Miczajka an, wird die Verhandlung weitergeführt.

Zwei Wochen trifft man sich wieder im Sicherheitssaal des Berliner Kriminalgerichts. Der dritte Verhandlungstag ist noch einmal deutlich kürzer als der zweite, er dauert nur zweieinhalb Stunden. Das Gericht hat lediglich einen Gerichtsmediziner und einen ehemaligen Stasi-Arzt geladen. Der Obduktionsbericht, so der Mediziner, zeige die „lehrbuchartige Morphologie eines Rückenschusses“. Lunge, Milz, Magen und Leber seien so stark verletzt worden, dass allein in die Brusthöhle ein Liter Blut gelaufen sei. Kukuczka sei offenkundig verblutet.

Ein Liter Blut in der Brusthöhle – Stasi-Foto der vermeintlichen Bombe Kukuczkas mit Hydrantendeckel (8)

Bevor das Gericht eine Pause einlegt, teilt der Richter noch mit, dass er an die Prozessbeteiligten eine CD-ROM der Stasi-Unterlagen-Behörde verteilt habe. Sie enthalte die Antwort auf die Nachfrage zu den übrigen ausgezeichneten Personen. „Sie können daraus Schlüsse ziehen, ob Sie noch andere Zeugen einladen wollen.“ Die Staatsanwältin gibt allerdings zu Protokoll, dass einer der Ausgezeichneten verstorben und ein anderer nicht mehr aufzufinden sei.

Um 10 Uhr 15 ist der Stasi-Arzt an der Reihe. Auch gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren, da er zusammen mit dem Angeklagten ebenfalls einen Orden erhielt. Er sagt aus, er habe damals einen Anruf bekommen, dass er eine verletzte Person vom Bahnhof Friedrichstraße ins Krankenhaus bringen solle. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass er die Schussverletzung nicht einmal untersucht hat. „Das war für mich nicht die Priorität.“ Auch dass er den Orden, wie es in der Begründung heißt, „für die erforderlichen medizinischen Maßnahmen nach einer Grenzprovokation“ bekommen hatte, sei ihm nicht bekannt. Er habe mehrere Orden bekommen, die jedoch alle bei einem Kellereinbruch abhanden gekommen seien.

Um kurz nach halb 12 Uhr schließt der Richter die Sitzung. Der dritte Verhandlungstag im Mordfall Kukuczka ist zu Ende. Am 2. Mai soll es weitergehen im Saal 142 des Kriminalgerichts. Dass die Berliner Justiz dann mehr Entschlossenheit zeigt, den heimtückischen Stasi-Mord doch noch zu sühnen, ist eher unwahrscheinlich.

Bildnachweis:
(1) StUA MfS HA VI Nr. 4371, Bl. 51 (koloriert)
(2) Brewer Bob / CC BY-SA 4.0
(3) StUA Kaderakte Bruno Beater
(4) Fridolin freudenfett (Peter Kuley) / CC BY-SA 3.0
(5) bis (7) Hubertus Knabe
(8) StUA MfS HA IX

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