Moskauer Denkmalstreit

Moskauer Denkmalstreit
"Schluss mit der Junta" – Demonstranten auf dem Denkmal Feliks Dzierzynskis in Moskau am 22. August 1991 (1)

Hardliner in Russland wollen den Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Feliks Dzierzynski rehabilitieren. Sein vor 30 Jahren gestürztes Denkmal soll in die Moskauer Innenstadt zurückkehren. Jetzt fand darüber eine Abstimmung statt – mit überraschenden Ausgang.

Von Hubertus Knabe

Die riesige Zentrale des russischen Inlandsgeheimdienstes in Moskau hat immer noch etwas Einschüchterndes an sich. Zu Sowjetzeiten machten die Menschen einen Bogen um das Gebäude, weil hier die berüchtigte kommunistische Geheimpolizei residierte. In den Kellern der Lubjanka, wie die Moskauer den achtstöckigen Bau bis heute nennen, wurden einst Zehntausende Menschen verhört und gefoltert und vielfach auch erschossen.

Als Begründer des kommunistischen Terrors gilt derpolnisch-russische Berufsrevolutionär Feliks Dzierzynski. Im Dezember 1917 bekam er von Lenin den Auftrag, eine Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage ins Leben zu rufen – die sogenannte Tscheka. Mit dem Dekret über den Roten Terror wurde diese wenig später verpflichtet, Russland „von den Klassenfeinden zu befreien“, sie „in Konzentrationslagern zu isolieren“ und Gegner der Bolschewiki kurzerhand zu erschießen. Die Zahl von Dzierzynskis Opfern wird auf 250.000 bis eine Million Menschen geschätzt.

1920 zog der Gründer der Tscheka mit seinem Apparat in den imposanten Bau im Herzen Moskaus. Bis 1926, als er nach einer Rede vor dem Zentralkomitee überraschend starb, stand er an der Spitze der sowjetischen Geheimpolizei. Diese änderte zwar mehrfach ihren Namen, blieb aber im Kern dieselbe Organisation. Deshalb avancierte Dzierzynski nach dem Zweiten Weltkrieg im gesamten Ostblock zum Vorbild für die Sicherheitsdienste, die mit Orden, Porträts und Denkmälern an ihn erinnerten. Die Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes nannten sich Tschekisten und das Wachregiment der Stasi erhielt feierlich seinen Namen verliehen. Auch in Moskau wurde 1958 vor seinem einstigen Dienstsitz eine zwölf Meter hohe Statue errichtet.

Vorbild für die Sicherheitsdienste – Minister Erich Mielke bei der Umbenennung des Stasi-Wachregiments 1967 (2)

Russlands unvollendete Revolution

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus endete der Dzierzynski-Kult. Nach dem gescheiterten Putsch gegen Michail Gorbatschow kletterten Demonstranten in Moskau 1991 auf die riesige Statue und legten ihr Stahlseile um, um sie umzureißen. Weil dies zu gefährlich schien, rückten schließlich Baukräne an und hoben sie vom Sockel. Später landete sie im Moskauer Skulpturenpark „Museon“, wo zwischen Bäumen, Grasflächen und Sonnenliegen noch andere ausrangierte Denkmäler aus der Zeit des Sozialismus herumstehen. Die bizarre Verehrung eines Massenmörders in Russland schien damit ein friedliches Ende gefunden zu haben.

Doch das Aufbegehren gegen die kommunistische Diktatur blieb unvollendet. Das Mausoleum an der Kreml-Mauer, in dem der einbalsamierte Leichnam Lenins – dem Auftraggeber Dzierzynskis – lag, wurde nicht angetastet. Die Machtapparate stabilisierten sich vielmehr wieder und mit Wladimir Putin übernahm neun Jahre später ein ehemaliger KGB-Offizier das Präsidentenamt. Seitdem erlebt Russland nicht nur eine politische Restauration, sondern auch eine schleichende Rehabilitierung des Sowjetregimes.

Dass die letzte russische Revolution unvollendet blieb, zeigt sich auch im Umgang mit Dzierzynski. Die nach ihm benannte Großstadt Dzierzynsk heißt immer noch so. Auch eine Division der Spezialeinheiten des russischen Innenministeriums trägt seinen Namen. Und auf Initiative ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter wurde 2017 in Kirow sogar ein neues Denkmal für ihn eingeweiht. In Moskau fordern konservative Kräfte inzwischen öffentlich, dass Dzierzynskis Statue an ihren alten Platz zurückkehrt.

Soll an ihren alten Platz zurückkehren – Statue des Tscheka-Gründers Feliks Dzierzynski vor der KGB-Zentrale 1985

Ende Februar kam es in Russland erstmals zu einer Abstimmung darüber. Eine Gruppe um die Schriftsteller Alexander Prochanow und Zakhar Prilepin hatte einen entsprechenden Appell an die russische Regierung und den Moskauer Bürgermeister gerichtet. Prochanow ist Chefredakteur der rechtsextremen  Zeitung Sawtra (Morgen) und Leiter des nationalpatriotischen Isborsker Klub. Prilepin ist informelles Mitglied der verbotenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands und stellvertretender Bataillonskommandeur bei den Separatisten in der Ostukraine. Beide gehörten früher zur rechten Opposition gegen Putin, den sie inzwischen jedoch unterstützen.

Die Abstimmung erfolgte über das städtische Portal „Aktive Bürger“, auf dem sich jeder Besitzer einer russischen SIM-Karte registrieren lassen kann. Der Vorsitzende des Kulturausschusses im Moskauer Stadtparlament hatte zuvor erklärt, dass eine Entscheidung über die Rückkehr der Statue vom Votum der Einwohner abhängig gemacht werden solle. Allerdings konnte man nicht dafür oder dagegen stimmen, sondern musste sich zwischen dem Denkmal Dzierzynskis und dem des russischen Großfürsten Alexander Newski entscheiden.

Bereits nach einem Tag hatten mehr als 300.000 Menschen an der Abstimmung teilgenommen. 55 Prozent sprachen sich für Newski aus und 45 Prozent für Dzierzynski. Genau 142.943 Nutzer hatten für eine Rückkehr der Statue gestimmt. Doch dann wurde die bis zum 5. März anberaumte Befragung am Freitag überraschend abgebrochen. Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin erklärte, es gebe derzeit wichtigere Probleme und Denkmäler sollten die Menschen verbinden und nicht auseinanderbringen.

Abstimmung überraschend abgebrochen – Ausrangiertes Dzierzynski-Denkmal im Moskauer Skulpturenpark

Verstaatlichung des Gedenkens

Über die Gründe für den plötzlichen Sinneswandel kann man derzeit nur spekulieren. Das unabhängige Internetportal Medusa vermutete, mit der Abstimmung habe die Regierung die Aufmerksamkeit liberaler Kreise von der Inhaftierung des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny ablenken wollen. Andere äußerten im Internet den Verdacht, dass es sich nur um einen Stimmungstest gehandelt habe. Möglicherweise wurde den Verantwortlichen das Thema aber auch zu heiß, so dass sie vorzeitig zum Rückzug bliesen.

Der Kreml versucht nämlich seit einigen Jahren, die Erinnerung an die Verfolgungen der Sowjetzeit nicht mehr nur der Putin-kritischen Menschenrechtsorganisation Memorial zu überlassen. So finanziert die Kulturabteilung der Stadt Moskau ein ambitioniertes Museum für die Geschichte des Gulag, das 2015 eröffnet wurde und gerade den Museumspreis des Europarates gewonnen hat. 2017 übergab der russische Präsident in der Hauptstadt ein riesiges Denkmal, das er persönlich in Auftrag gegeben hatte, um an die Opfer der Massenverfolgungen zu erinnern. Die Einweihung der dreißig Meter langen „Mauer der Trauer“, an der auch viele Überlebende teilnahmen, erfolgte am 30. Oktober, dem russischen Gedenktag für die Opfer politischer Gewalt.

Von Putin in Auftrag gegeben – Moskauer Denkmal für die Opfer der Massenverfolgungen in der Sowjetunion

Genau an diesem Tag treffen sich Vertreter von Memorial und Angehörige der Verfolgten seit 1990 auf dem Platz, auf dem früher Dzierzynski stand. Bereits vor dem Sturz der Statue hatte die Menschenrechtsorganisation dort in Sichtweite der Lubjanka einen Felsen von der einstigen Gefangeneninsel Solowetzki aufgestellt. Er sollte als Grundstein für ein künftiges Denkmal dienen, das nie gebaut wurde. In der Nacht zum 30. Oktober werden hier regelmäßig die Namen der Opfer verlesen und Blumen niedergelegt. 

Lesen Sie auch: Der erste Gulag. Die russische Gefangeneninsel Solowetzki im Weißen Meer

Solche provisorischen Denkmäler gibt es auch noch an anderen Orten, zum Beispiel in der von Lagerhäftlingen erbauten Stadt Workuta oder in Sankt Petersburg. Die Mehrzahl von ihnen entstand Anfang der 1990er Jahre auf Initiative von Memorial und lokalen Behörden. Memorial entdeckte damals auch mehrere Massengräber, die wie in Lewaschowo oder Sandarmorch zu beklemmenden Gedenkfriedhöfen wurden. Angehörige befestigten emaillierte Bilder der Toten an die Bäume, die der KGB zur Tarnung auf die Gräber gepflanzt hatte, oder stellten dazwischen Kreuze und Grabsteine auf. Erst unlängst richtete das Moskauer Gulag-Museum an einem solchen Massengrab im Stadtteil Kommunarka ein neues Dokumentationszentrum ein.

Der Plan, den Gründer der Tscheka per Volksabstimmung auf den Platz vor seinem einstigen Amtssitz zurückzuholen, scheint vorerst ad acta gelegt zu sein. Zu groß erschien den Stadtoberen offenbar das Risiko, den liberalen Kräften durch einen unnötigen Konflikt neuen Zulauf zu verschaffen und die Erfolge bei der Verstaatlichung des Gedenkens in Frage zu stellen. So muss der Begründer des kommunistischen Terrors wohl weiterhin mit einem Platz im Moskauer Skulpturenpark vorlieb nehmen – zwischen Marx, Lenin, Stalin und anderen Protagonisten einer Ideologie, die mehr Tote hinterlassen hat als jede andere.

Der Text erschien zuerst in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. März 2021. Mehr Informationen zur Aufarbeitung in Russland gibt es hier.

(1) Dmitry Borko, CC BY-SA 4.0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-F1215-0028-001 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE

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