Die Rückkehr der Sichtagitation

Die Rückkehr der Sichtagitation
Politische Botschaften im Straßenbild - Großplakate des Berliner Senats und der Deutschen Bahn zur Beeinflussung der Bürger

Seit der Corona-Pandemie dienen Werbeflächen immer häufiger dazu, mit Appellen auf die Bürger einzuwirken. Der Trend zur Verbreitung politischer Botschaften im öffentlichen Raum ist freilich schon länger zu beobachten. Die Kampagnen, die den Steuerzahler Millionen kosten, erinnern in mancher Beziehung an die untergegangene DDR.

Von Hubertus Knabe

Wer in den vergangenen Wochen mit offenen Augen durch Berlin lief, der konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das politische Plakat in Deutschland eine Renaissance erlebt. Da wo normalerweise für Flatrates, Dessous oder Bier geworben wird, schlagen einem immer häufiger politische Losungen entgegen. „Bei uns ist Klimaschutz mehr als Fassade,“ verkündeten zum Beispiel Deutschlands Wohnungsbaugenossenschaften auf mannshohen Plakaten. „Berlin sagt Ja zum CO2-Ausgleich,“ behauptete der Shell-Konzern auf einem riesigen Fassadentransparent. Und die Stadtregierung forderte von ihren Bürgern auf Hunderten Werbetafeln: „Berliner: Tragt, was Ihr wollt. Hauptsache Maske“. So viel politische Agitation auf den Straßen der Hauptstadt kennt man sonst nur aus Wahlkampfzeiten.

Politische Agitation wie in Wahlkampfzeiten – Auswahl von Großplakaten im öffentlichen Raum in Berlin 2020

Gelernte DDR-Bürger fühlen sich zunehmend an alte Zeiten erinnert. Im Sozialismus gehörte die „Sichtagitation“ – wie das Anbringen politischer Botschaften im öffentlichen Raum hieß – zum Alltag. „Je stärker der Sozialismus, desto sicherer der Frieden“, war da am Straßenrand in großen Lettern zu lesen. „Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden“, verkündeten Stelltafeln vor volkseigenen Betrieben. Und Plakatwände mit Friedenstaube und Getreideähren versprachen: „Alles für das Wohl des Menschen. Alles für das Glück des Volkes“.

Sozialistische Straßenagitation

Im Unterschied zu heute wurde die politische Agitation in der DDR jedoch zentral gesteuert. Im Zentralkomitee der SED gab es dafür eine eigene Abteilung, die auch die einzige Werbeagentur der DDR lenkte: die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft (DEWAG). Darüber stand der mächtige ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda, der – zusammen mit einigen weiteren Spitzenfunktionären in der Agitationskommission der SED – auch die Losungen für die Kampagnen vorgab. Solche Sekretäre gab es nicht nur an der Spitze von SED und FDJ, sondern in jeder Grundorganisation – zum Beispiel am Zentralinstitut für Physikalische Chemie, wo Angela Merkel bei der FDJ diesen Posten bekleidete.

Agitationssekretäre in jeder Grundorganisation – SED-Propagandaplakat am Domplatz in Merseburg 1980 (1)

Die Wurzeln dieser Agitation – die sich laut Lenin von der Propaganda dadurch unterscheidet, dass sie sich auf wenige zentrale Botschaften beschränkt – reichen bis in die Anfänge der Sowjetunion zurück. Die Bolschewiki setzten damals im großen Stil Plakate ein, um ihre Botschaften in der häufig wenig gebildeten Bevölkerung effektiver zu verbreiten. Die russische Telegrafenagentur ROSTA „übersetzte“ zu diesem Zweck aktuelle Nachrichten in eingängige Grafiken und Parolen, die dann in Ladenfenstern, Bahnhöfen oder auf öffentlichen Plätzen aufgehängt wurden.

Auch die SED griff auf diese bewährte Form der Agitation zurück. Wie Katharina Klotz in ihrer Dissertation über die „politische Ikonographie der sozialistischen Sichtagitation“ ausführt, bildete das Plakat in der Frühzeit der DDR sogar das bedeutendste Kommunikationsmittel der Politik. Die zuständige Abteilung Agitation gab damals vor, was auch heute noch viele Werbeagenturen leiten dürfte: „Das Plakat muss offensiv, aktuell, originell und kühn in der Idee und Form sein. Es muss die Aufmerksamkeit erwecken und Verstand und Gefühl des Betrachters zu eigenen Schlussfolgerungen und Taten anregen.“

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Genau das gelang in der späten DDR allerdings immer seltener. Nach 40 Jahren Sichtagitation hatte diese nämlich vor allem eins zur Folge – Abstumpfung. Die Parolen standen zudem immer offensichtlicher im Gegensatz zu Realität. Vor den heruntergekommenen Fabriken und Wohnhäusern trugen sie oft unfreiwillig sarkastische Züge, was sie in Ostdeutschland zu einem beliebten Sujet kritischer Fotografen machte. Im Oktober 1986 beschloss der Ministerrat der DDR deshalb, die Sichtagitation zurückzufahren. Trotzdem beschäftigten viele sozialistische Großbetriebe bis zur Wiedervereinigung eigene Schriftenmaler, deren einzige Aufgabe es war, politische Plakate herzustellen.

Unfreiwillig sarkastische Züge – DDR-Großplakate in Bombenlücken des Zweiten Weltkriegs in Halberstadt 1980 (2)

Nach der Friedlichen Revolution war es damit vorbei. Statt steriler Politparolen warben plötzlich grelle Plakate für Autos oder Erotikmessen. Deren Ästhetik wurde zwar vielfach noch von den alten Schriftenmalern geprägt, doch bald glich sich das Design der Werbung in Ost und West immer mehr an. Was blieb, war das Misstrauen vieler Ostdeutscher gegenüber plumper politischer Propaganda – vor allem wenn sie von staatlicher Seite kommt.

Ende der Zurückhaltung

Im vereinigten Deutschland sprach der Staat die Bürger lange Zeit nur in Ausnahmefällen mit Plakaten an. In der Regel ging es dabei eher um unpolitische Themen wie Nachwuchswerbung für die Bundeswehr oder Appelle zur Benutzung von Präservativen. Politische Agitation blieb meistens gemeinnützigen Organisationen vorbehalten, denen die Werbeunternehmen in auftragsarmen Zeiten Plakatflächen zur Verfügung stellen. Amnesty International, die Naturschutzorganisation WWF oder der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge füllten vor allem im Sommer die leeren Werbeflächen mit knalligen Parolen.

Diese aus historischer Erfahrung resultierende Zurückhaltung des Staates hat in den letzten Jahren merklich nachgelassen. Wie es scheint, vertraut eine wachsende Zahl von Politikern immer weniger der Überzeugungskraft ihrer eigenen Politik. Sie setzen deshalb immer häufiger auf große – und teure – Werbekampagnen, um die Bürger zu beeinflussen. Taten sich hier lange Zeit vor allem die SPD-geführten Ministerien hervor, hat inzwischen auch die CDU ihr Faible für die Sichtagitation auf deutschen Straßen entdeckt.

Teure Werbekampagnen – Plakat des Bundesfamilienministeriums gegen Rassismus in Berlin im November 2020

Vorreiter bei dieser Entwicklung war das Bundesfamilienministerium. Seit der Übernahme des Ministeriums durch die SPD Ende 2013 gab es nicht mehr nur die üblichen Plakate zum Jugendschutz, sondern eine wachsende Zahl von Motiven mit politischer Stoßrichtung. Das Geld dafür kam in der Regel aus dem von der damaligen Ministerin Manuela Schwesig aus der Taufe gehobenen Programm „Demokratie leben“. Dessen Etat verdreifachte sich in wenigen Jahren beinahe – von 40,5 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 115,5 Millionen Euro im Jahr 2020. Um die schleppende Nachfrage nach den üppigen Mitteln des Programms anzukurbeln, erhielt die Agentur Scholz & Friends 2017 den Auftrag zu einer deutschlandweiten Werbekampagne. Vor Kurzem beschloss die Große Koalition, das Budget noch einmal fast zu verdoppeln – auf nunmehr 200 Millionen Euro im Jahr 2023. Auch in den letzten Wochen war das Familienministerium mit Plakaten präsent, auf denen unter anderem behauptet wurde: „Rassismus ist ein echtes Problem in Deutschland“.

Das ebenfalls SPD-geführte Bundesumweltministerium geht inzwischen ähnlich vor. Das Spektrum seiner Kampagnen reicht von Slogans wie „Zusammen ist es Klimaschutz“ über „Wir schützen Insekten“ bis hin zur politischen Forderung „Nein zur Wegwerfgesellschaft“. 2017 ließ die damalige Umweltministerin Barbara Hendricks in über 70 Städten selbst erfundene Bauernregeln plakatieren wie zum Beispiel: „Steht das Schwein auf einem Bein, ist der Schweinestall zu klein.“ Weil sich viele Bauern dadurch verunglimpft sahen, hagelte es massive Proteste. Auf seiner Website bezeichnet das Ministerium die Kampagnen hingegen als „Kommunikation für eine breite gesellschaftliche Beteiligung und Akzeptanz“.

Auch das Justizministerium – das von allen Bundesministerien den kleinsten Etat hat – ist inzwischen auf den Zug aufgesprungen. Im vergangenen Jahr ließ es in ganz Deutschland die Parole „Wir sind Rechtsstaat“ plakatieren. Auf den Werbetafeln wurde ein reichlich euphemistisches Bild des Rechtsstaates in der Bundesrepublik gezeichnet. Auf einem waren zum Beispiel zwei gut gelaunte Männer auf einem Tandem-Fahrrad zu sehen, die jeweils eine muslimische und eine jüdische Kopfbedeckung trugen, neben sich das Bekenntnis: „Wir glauben an die Freiheit. Und an die Freiheit des Glaubens.“ Ein anderes Motiv zeigte eine Richterin zusammen mit dem Slogan: „Wir schützen vor Willkür. Und schwören auf Gerechtigkeit.“

„Wir schwören auf Gerechtigkeit“ – Plakatkampagne des Bundesministeriums für Verbraucherschutz und Justiz (3)

Die Kampagne kostete über fünf Millionen Euro – weshalb die FDP den Bundesrechnungshof einschaltete. Der Haushaltsexperte Otto Fricke erklärte, die Bundesregierung hätte das Geld lieber in Maßnahmen zur Stärkung des Rechtsstaates statt in „bunte Plakate mit Feelgood-Botschaften“ zu stecken. Auch die Regisseurin Helke Sander bezeichnete es in einem offenen Brief als eine Verschwendung von Steuergeldern, darüber hinwegzusehen, dass religiöse Muslime „ihren Glauben über das Grundgesetz stellen“ würden.

Auf Kritik stießen auch zwei Kampagnen des Bundesfinanzministeriums. Im vergangenen Jahr warb das von Olaf Scholz (SPD) geführte Ministerium für eine Neuregelung der Grundsteuer, die der Bundestag noch gar nicht beschlossen hatte. Knapp eine Million Euro hatte es für zwei weitere Kampagnen ausgegeben, mit denen es sein Gesetz gegen illegale Beschäftigung angepriesen hatte. Der FDP-Abgeordnete Markus Herbrand erklärte damals, das Ministerium verfolge wohl das Motto: „Wer nicht mit Inhalten überzeugen kann, muss tief in die Steuergeld-Tasche greifen.”

Eine beispiellose Ausweitung der Agitation auf deutschen Straßen hat freilich erst im Zuge der Corona-Pandemie Platz gegriffen. Schätzungen zufolge stiegen die Werbeausgaben der Bundesregierung zwischen 2019 und 2020 von 60 auf 150 Millionen Euro. Den Löwenanteil daran verbrauchte das CDU-geführte Bundesministerium für Gesundheit, dessen Werbeausgaben sich gegenüber 2019 mit 65 Millionen Euro mehr als verzwanzigfachten. Allein die Kampagne „Zusammen gegen Corona“ kostete etwa 35 Millionen Euro. Bei ihr geht es nicht nur um Aufklärung, sondern auch um die Erziehung der Bürger zu einem anderen Verhalten. Der Hashtag „#FürMichFürUns“ appelliert zudem – wie viele Kampagnen – an ein abstraktes gesellschaftliches Kollektiv, was vielen Ostdeutschen noch aus der SED-Propaganda unangenehm in Erinnerung ist.

Beispiellose Ausweitung der Agitation in Deutschland – Anti-Corona-Plakat des Bundesministeriums für Gesundheit

Dabei ist die Bundesregierung nicht der einzige Akteur, der derzeit mit Plakaten auf die Bürger einzuwirken sucht. Auch viele Landesregierungen und Unternehmen haben eigene Kampagnen entwickelt. Berlin ließ es sich zum Beispiel eine Million Euro kosten, um in der ganzen Stadt Losungen wie „Maske auf. Sonst Lokal zu“ anzubringen. Ein anderes Plakat der Stadt zeigte eine grimmige ältere Dame, die unter dem Schriftzug „Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske“ den Stinkefinger zeigte. Nach heftigen Protesten wurde es nach wenigen Tagen wieder aus dem Verkehr gezogen.

Anleihen bei der DDR

Gestrichen wurde auch ein Slogan aus der neuen Imagekampagne des Berliner Senats. Unter flotten Sprüchen wurde im September und Oktober 2020 auf unzähligen Werbeflächen der Hashtag „#WirSindEinBerlin“ plakatiert. Die neue Markenstrategie fußt laut Senatskanzlei auf der Formel „Vom Ich zum Wir“ – ein Slogan, mit dem die SED einst die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der DDR propagierte. Hatte Regierungschef Michael Müller entsprechende Kritik zunächst alssehr weit hergeholt“ zurückgewiesen, ließ der Senat wenig später erklären, dass man die Losung öffentlich nicht einsetzen werde. Auf seiner Website steht sie allerdings immer noch. Auch unabhängig von dieser historischen Anleihe bei der DDR hielt es der Bund der Steuerzahler für unnötig, „bei den Berlinern Werbung für Berlin zu machen“. Er bezweifelte zudem, dass die angegebenen Kosten von 1,5 Millionen Euro der Wirklichkeit entsprächen.

Zur Flut politischer Botschaften im öffentlichen Raum hat freilich auch die Wirtschaft beigetragen. So gaben die großen Handelsunternehmen allein im März 22,9 Millionen Euro für „Corona-Werbung“ aus, die Telekommunikationsanbieter immerhin rund fünf Millionen Euro. In den letzten Wochen waren in Deutschland vor allem Corona-Plakate der Deutschen Bahn zu sehen. Aber auch die Volksbanken warben nicht mit Girokonten, sondern mit dem Slogan „Gemeinsam sind wir stark“. Auch bei diesen Kampagnen geht es in der Regel um die Erziehung der Menschen zu einem anderen Verhalten und um die Erzeugung eines neuen Wir-Gefühls. Die Appelle an ein imaginäres Kollektiv und die diversen „Helden“-Kampagnen der Supermärkte erinnern manchen Ostdeutschen an Losungen aus der DDR, wo der „Held der Arbeit“ sogar zum geflügelten Wort wurde – allerdings mit ironischer Bedeutung.

Appell an ein imaginäres Kollektiv – Arbeiterheld auf einem Wandfries von 1952 am früheren DDR-Regierungssitz

Doch nicht nur die aktuelle Herausforderung durch COVID-19 hat viele Unternehmen veranlasst, sich in der Außenwerbung verstärkt politisch zu positionieren. Auch bei anderen Themen sieht sich eine wachsende Zahl von Firmen genötigt, dem Zeitgeist Tribut zu zollen. So präsentierte sich der Ölkonzern Shell jüngst in mehreren Städten auf riesigen Fassadenbannern als Vorreiter beim CO2-Ausgleich – was Umweltschützer prompt als „Greenwashing“ kritisierten. Auch Ikea warb in den letzten Wochen auf Plakaten mit dem Slogan „Nachhaltigkeit darf kein Luxus sein“ – was bei aus Spanplatten hergestellten Möbeln kaum glaubwürdiger klingt. Das ritualhafte Bekenntnis zu Nachhaltigkeit und Klimaschutz in Deutschland ist inzwischen schon fast so abgenutzt wie das zum Frieden in der DDR.

Ob die millionenschweren Kampagnen tatsächlich die beabsichtigte Wirkung haben, darf bezweifelt werden. In der DDR hat die Politisierung des öffentlichen Raums jedenfalls nicht den gewünschten Effekt zur Folge gehabt. Im Gegenteil: Sie hat die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft vertieft, weil die Kommunikation nur in eine Richtung verlief und viele die Losungen als unglaubwürdig empfanden. Nicht wenige hat sie sogar in ihrer Ablehnung des politischen Systems bestärkt, weil sie sich auf Schritt und Tritt indoktriniert fühlten. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Kommunikation und den tatsächlichen Problemen der Menschen bildete am Ende eine zentrale Ursache für den Zusammenbruch des SED-Regimes. Man kann die DDR daher durchaus als Warnung verstehen, wozu ein Übermaß an politischer Agitation führen kann.

Der Text erschien zuerst in: Neue Züricher Zeitung vom 21. Dezember 2020.

(1) Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Merseburg, Domplatz — 1980 — 5” / CC BY-SA 4.0
(2) Michel Huhardeaux from Brussels, Belgium / CC BY-SA 2.0
(3) Copyright: Bundesministeriums für Verbraucherschutz und Justiz

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