Späte Sühne für einen Stasi-Mord

Vor 50 Jahren erschossen - Der polnische Flüchtling Czesław Kukuczka (1)

Zum ersten Mal wurde in Deutschland ein ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter wegen eines Auftragsmordes zu einer Haftstrafe verurteilt. Das Urteil ist vor allem der Beharrlichkeit der polnischen Nebenkläger zu verdanken.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Für einen Augenblick herrschte ungläubiges Staunen im Saal 142 des Berliner Landgerichtes. „Der Angeklagte wird zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt,“ lautete das Urteil gegen den früheren Stasi-Mitarbeiter Manfred N.. Nach Überzeugung der 29. Strafkammer hatte er im März 1974 am Grenzübergang Friedrichstraße einen polnischen Flüchtling erschossen. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass der inzwischen Achtzigjährige einen heimtückischen Auftragsmord beging.

Das Urteil ist eine kleine juristische Sensation. Von den insgesamt rund 250.000 hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern mussten lediglich zwei ins Gefängnis. Der eine, Werner Funk, hatte 1984 vor seiner Dienststelle betrunken zwei junge Männer erschossen. Der andere, Helmut Voigt, hatte 1983 der syrischen Botschaft Sprengstoff ausgehändigt, mit dem anschließend in West-Berlin ein tödlicher Bombenanschlag verübt worden war. Der Mord an Michael Gartenschläger, der von der Stasi gezielt getötet wurde, als er an der innerdeutschen Grenze eine Selbstschussanlage abbauen wollte, wurde dagegen niemals gesühnt. Selbst Ex-Stasi-Minister Erich Mielke bekam für die Ermordung zweier Polizisten im Jahr 1931 nur sechs Jahre Gefängnis – und wurde nach zwei Jahren freigelassen.

Nach zwei Jahren freigelassen – Stasi-Minister Erich Mielke 1987 (2)

Auch der jetzt vor dem Berliner Landgericht verhandelte Fall war jahrelang ungesühnt geblieben. Westdeutsche Schülerinnen hatten bereits 1974 berichtet, dass sie in der Abfertigungshalle am Bahnhof Friedrichstraße gesehen hätten, wie ein Mann vor ihren Augen erschossen worden sei. Ihre Aussagen, die die Erfassungsstelle Salzgitter dokumentiert hatte, führten nach dem Ende der DDR zwar zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens. Doch weil weder Täter noch Opfer bekannt waren, wurde es bald wieder eingestellt.

Erst 1999 stießen Ermittler auf einen Obduktionsbericht der Charité, aus dem hervorging, wer damals erschossen worden war: ein 38jähriger Pole namens Czesław Kukuczka, der in den Westen ausreisen wollte. Wie aus einem Bericht der Stasi vom selben Tag hervorgeht, hatte er am 29. März 1974 in der polnischen Botschaft damit gedroht, sich und das Gebäude in die Luft zu sprengen, wenn man ihn nicht passieren ließe. Zur Untermauerung seiner Drohung hatte er auf seinem Schoss eine Aktentasche, aus der ein Kabel herausragte. Wie sich später herausstellte, befanden sich darin jedoch nur ein Hydrantendeckel und andere ungefährliche Utensilien.

Ein Hydrantendeckel und andere ungefährliche Utensilien – Stasi-Foto der Aktentasche des Erschossenen

Die eilends herbeigerufene Stasi sicherte Kukuczka die Ausreise zu – allerdings nur zum Schein, denn Mielkes Stellvertreter Bruno Beater hatte angewiesen, ihn außerhalb der Botschaft „unschädlich zu machen“. Zwei Stasi-Offiziere fuhren ihn zum Grenzübergang und lotsten ihn durch die Kontrollen. Nachdem er diese erfolgreich passiert hatte, löste sich plötzlich ein Mann aus einem Versteck und streckte ihn mit einem Schuss in den Rücken nieder. Am Abend verblutete der Vater dreier Kinder im Stasi-Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen.

Weil die Staatsanwaltschaft nicht herausfand, wer die Tat begangen hatte, wurden die Ermittlungen 2005 ein zweites Mal eingestellt. Dabei lagen in der Stasi-Unterlagen-Behörde Dokumente, die belegten, wer für die Exekution einen Orden erhalten hatte: der 30-jährige Oberleutnant Manfred N., ein im Zweikampf gestählter „Fahnder“ am Grenzbahnhof Friedrichstraße. Selbst als die Behörde der Staatsanwaltschaft 2016 davon Mitteilung machte, erhob diese keine Anklage. Der Vorgang sei verjährt, weil es sich nur um Totschlag handele, so die Begründung.

Auslieferungsantrag durch Polen

Erst als ein polnisches Gericht 2021 einen Europäischen Haftbefehl gegen den Schützen erließ und dessen Auslieferung verlangte, kam Bewegung in die Sache. Das zuständige Oberlandesgericht Dresden schrieb 2022 an die Berliner Staatsanwaltschaft: Dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik und des Landes Berlin drohe „erheblicher Schaden“, wenn der Stasi-Mann in Polen wegen Mordes verurteilt würde. Die Staatsanwaltschaft solle deshalb ihre Entscheidung doch noch einmal überprüfen, da man den Fall deutlich anders einschätze. Erst unter diesem Druck erhob die Berliner Justiz Anklage, wobei der Beschuldigte auf freiem Fuß blieb.

„Erheblicher Schaden für das internationale Ansehen“ – Berliner Landgericht in der Turmstraße

Als der Prozess im März dieses Jahres eröffnet wurde, stellte sich heraus, dass die Staatsanwaltschaft so gut wie keine Ermittlungen durchgeführt hatte. Auch der eingesetzte Richter Bernd Miczajka drängte immer wieder auf Eile, weil Fälle, in denen die Beschuldigten in Haft säßen, Vorrang hätten. Anträge der Nebenklage, die die polnischen Angehörigen des Erschossenen vertrat, wies das Gericht mehrfach ab, da sie das Verfahren in die Länge zögen. Auch die Verlesung von Dokumenten lehnte es ab, obwohl der Prozess wegen seiner historischen Bedeutung eigens aufgezeichnet wurde. Laut Zeitplan des Gerichts sollte das Urteil bereits im Mai verkündet werden.

Dass das Verfahren doch noch einen anderen Verlauf nahm, ist vor allem dem ehemaligen Bundesanwalt Hans-Jürgen Förster und seinen polnischen Kollegen zu verdanken. Als Anwalt der Nebenkläger forderten sie nicht nur die Herbeiziehung aller relevanten Dokumente, sondern auch die Ladung aller noch lebenden Zeugen. Weil die Staatsanwaltschaft so schlecht gearbeitet hatte, mussten diese jedoch oft erst ausfindig gemacht und geladen werden. Einmal erschien sogar die falsche Person, weil sie denselben Namen trug wie ein anderer Stasi-Offizier. Ein anderes Mal erklärte die Staatsanwältin, laut Wikipedia seien die polnischen Zeugen bereits verstorben. Auch eine Historikerin des Bundesarchivs, die über die Methoden der Stasi an der Grenze Auskunft geben sollte, wurde erst im Sommer als Sachverständige hinzugezogen.

Bei der Urteilsverkündung räumte der Richter selbstkritisch ein, dass das Gericht „erst durch die Bemühungen der Nebenklage einen besseren Erkenntnisstand gewonnen“ hätte. Zugleich wies er darauf hin, wie schwierig es gewesen sei, eine so lange zurückliegende Tat aufzuklären. 43 Jahre seien vergangen, bis der Täter überhaupt bekannt geworden sei. Dessen Vorgesetzte seien nie zur Verantwortung gezogen worden. Die Kammer habe zudem eine Vielzahl an Dokumenten auswerten müssen. „Teilweise mussten wir auch erst durch umfangreiche Recherchen weitere Urkunden beschaffen.“ Statt der ursprünglich geplanten sieben seien es deshalb am Ende 16 Verhandlungstage geworden.

„Weitere Urkunden durch umfangreiche Recherchen“ – Vorschlag zur Auszeichnung vom 2. April 1974

In der Urteilsbegründung widmete sich Richter Miczajka zunächst dem Werdegang des Angeklagten. Bereits 1961 sei dieser der SED beigetreten, im selben Jahr habe er im Wachregiment der Stasi seinen Dienst aufgenommen, wo er bald Waffenwart geworden sei. 1965 habe ihn die Stasi dann fest in den Dienst übernommen. Am Bahnhof Friedrichstraße habe er einer verdeckt tätigen Operativgruppe angehört, die den Auftrag gehabt hätte, Grenzverletzter zu überwältigen oder auszuschalten.

Weder Mitgefühl noch Reue

Der ehemalige Stasi-Mann, der immer noch drahtig und durchtrainiert wirkt, hatte während des gesamten Prozesses geschwiegen. Weder Ausflüchte noch Worte des Mitgefühls oder Reue kamen über seine Lippen. Lediglich über seine Anwältin hatte er seine Schuld bestritten. Die anderthalbstündige Urteilsbegründung nahm er regungslos zur Kenntnis.

Immer noch drahtig und durchtrainiert – Ex-Stasi-Mitarbeiter Manfred N. vor dem Berliner Landgericht

Dass der Angeklagte der Täter war, ergab sich für das Gericht aus einer Ordensverleihung an alle Beteiligten. Nur bei ihm stand als Begründung, dass er am 29. März 1974 „den persönlichen Auftrag“ erhalten habe, einen „terroristischen Angriff auf die Staatsgrenze der DDR“ am Bahnhof Friedrichstraße „unter allen Umständen“ abzuwehren. „Genosse Oberleutnant N. löste umsichtig, mutig und entschlossen diese Aufgabe und konnte den Terroristen durch Anwendung der Schußwaffe unschädlich machen.“ Das Gericht kam deshalb zu dem Schluss: „Der Wortlaut des Vorschlags zur Auszeichnung belegt die Täterschaft des Angeklagten.“

Nach der Schilderung des Tathergangs und der Würdigung der Zeugen und Dokumente kam Richter Miczajka auf den wohl heikelsten Punkt in diesem Prozess zu sprechen: War es nicht legitim, auf einen Mann zu feuern, der damit gedroht hatte, eine Bombe zur Explosion zu bringen? Nein, so das Gericht, denn der Geschädigte hätte bereits alle Grenzkontrollen hinter sich gehabt. „Der Angeklagte hatte den Geschädigten an sich vorbei laufen lassen. Er hatte nach unserer Überzeugung auch gesehen, dass von Geschädigten keinerlei Gefahr mehr für die DDR ausging.“ Zudem hätte es ausgereicht, ihn bewegungsunfähig zu machen, statt gezielt auf den unteren Brustkorb zu schießen.

Die spätere Behauptung der Stasi, Kukuczka wäre aus Notwehr erschossen worden, bezeichnete der Vorsitzende der Strafkammer hingegen als „Legende“, um den wahren Hergang zu verschleiern. In einem Bericht ohne Datum und Verfasser heißt es, Kukuczka hätte „plötzlich aus seiner Manteltasche eine Pistole gezogen“, als er zwei Grenzsoldaten bemerkt hätte. Durch einen „gezielten Schuss des zweiten Postens“ wäre diese Gefahr abgewehrt worden. Sogar eine Pistole drückte die Stasi dem Toten in die Hand, um dessen Fingerabdrücke nachzuweisen. Die Zeugen, so das Gericht, hätten jedoch übereinstimmend berichtet, dass Kukuczka unbewaffnet war. „Ein zivil gekleideter Mann trat mit einer Waffe hervor und gab einen Schuss von hinten auf den Geschädigten ab.“ Auch aus dem Gutachten zur Obduktion ginge klar hervor, dass der Schuss in den Rücken erfolgt sei.

Schuss in den Rücken – Stasi-Schulungsfilm über den Grenzbahnhof Friedrichstraße (Screenshot)

Aus diesem Grunde handelt es sich nach Auffassung des Gerichts auch nicht um Totschlag. Dieser wäre nämlich längst verjährt. Es gebe keinerlei Anhaltspunkte, so der Richter, dass Kukuczka zu diesem Zeitpunkt noch von einem Zugriff ausgegangen oder von ihm noch irgendeine Eskalation zu erwarten gewesen wäre. „Er war arglos, so dass er sich auch nicht wehren konnte.“ Dem Staatssicherheitsdienst sei es „einzig um die Durchsetzung der Staatsdoktrin“ gegangen, dass niemand ungenehmigt die Grenze überschreite. Das sei „vollendeter heimtückischer Mord.“

Dass Manfred N. nicht mit lebenslänglichem Freiheitsentzug bestraft wurde, liegt am Einigungsvertrag. Danach muss eine in der DDR begangene Tat sowohl nach dem Strafgesetzbuch der DDR als auch dem der Bundesrepublik strafbar sein. Ist beides gegeben, ist das mildere Recht anzuwenden, in diesem Fall das der DDR. Als mildernden Umstand wertete das Gericht, dass die Tat so lange zurückliegt. Deshalb erhielt der Täter nur die Mindeststrafe von zehn Jahren.

Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Manfred N. hat eine Woche Zeit, um Revision einzulegen, und danach noch einen weiteren Monat für die Begründung. Der Bundesgerichtshof (BGH) überprüft dann das Urteil auf mögliche Rechtsfehler, was bis zu zwei Jahre dauern kann. Da der BGH in Verfahren gegen DDR-Verantwortliche die Urteile wiederholt aufgehoben hat, ist keineswegs ausgemacht, dass der Stasi-Killer vom Bahnhof Friedrichstraße tatsächlich irgendwann ins Gefängnis muss.

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Bildnachweis:
(1) Brewer Bob / CC BY-SA 4.0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-1987-0507-053 / CC-BY-SA 3.0

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