Szenen der Befreiung

Volksaufstand gegen die SED-Diktatur - Junge Männer werfen Steine gegen sowjetische Panzer in Berlin

Am 17. Juni 1953 erhoben sich eine Million Ostdeutsche gegen die Diktatur der SED. Doch die Erinnerung an den Volksaufstand vor 70 Jahren gerät immer mehr in Vergessenheit. Dabei handelte es sich um eine Erhebung, deren fundamentale Kraft bis heute beeindruckt.

Von Dr. Hubertus Knabe

vgwort

Sein Foto wurde weltbekannt. Als der West-Berliner Sportfotograf Wolfgang Albrecht am 17. Juni 1953 den Auftrag erhielt, zum Potsdamer Platz zu fahren, da es dort Unruhen gebe, fand er den Platz wie leer gefegt vor sich. Nur zwei sowjetische Panzer fuhren mit heulendem Motor hin und her und wühlten mit ihren Ketten den Bürgersteig auf. Plötzlich rannten zwei junge Männer nach vorne, griffen nach den losen Pflastersteinen und schleuderten sie gegen das vordere Fahrzeug, das drohend sein Geschützrohr auf sie richtete. In diesem Moment drückte Albrecht auf den Auslöser.

Das Foto des ungleichen Kampfes steht wie kein anderes für den Volksaufstand 1953 in der DDR. Es wurde zur Bildikone der Zeitgeschichte. Dabei gibt es die damalige Erhebung im Osten Deutschlands bestenfalls unvollkommen wieder. Albrecht stand nämlich auf der westlichen Seite der Sektorengrenze, von wo aus auch die beiden Steinewerfer losliefen. Und statt Kolonnen selbstbewusster Arbeiter, die den Rücktritt der Regierung fordern, zeigt es einen Akt verzweifelten Aufbegehrens. In der Szene ist die Niederlage des Aufstands bereits angelegt.

Dabei war diese durchaus nicht von Anfang an ausgemacht. Die SED war von den Ereignissen völlig überrumpelt worden, ihr Sicherheitsapparat hatte auf ganzer Linie versagt. Auch die Funktionäre waren verunsichert, nachdem die SED-Spitze wenige Tage vorher einen „Neuen Kurs“ verkündet hatte, der die Politik des „planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“ abrupt beendete. Selbst im Politbüro regte sich Kritik an der dogmatischen Politik von Parteichef Walter Ulbricht. Die sowjetische Führung hingegen war mit dem Kampf um die Nachfolge des im März verstorbenen Diktators Josef Stalins beschäftigt und debattierte über ein neues Angebot an die Westmächte zur Wiedervereinigung Deutschlands.

Nachfolgekämpfe in Moskau – Stalin-Denkmal an der Ost-Berliner Stalinallee (heute: Karl-Marx-Allee) 1952 (1)

Gewaltiger Massenprotest

In dieser Situation brachen in der DDR am 17. Juni 1953 gewaltige Massenproteste aus. Anlass war eine Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent. In Ost-Berlin waren Bauarbeiter am Vortag zum Sitz von Ministerpräsident Otto Grotewohl marschiert, um dagegen zu protestieren, Tausende hatten sich ihnen unterwegs angeschlossen. Weil Ulbricht und Grotewohl es ablehnten, mit ihnen zu sprechen, hatte ein Maurer spontan zum Generalstreik aufgerufen – mit unerwarteten Folgen: In Hunderten von Ortschaften kam es zeitgleich zu Streiks und Demonstrationen.

Mehr als eine Million Menschen gingen spontan auf die Straße, mindestens 600 Betriebe traten in den Streik. In zahlreichen Städten, besonders im Süden und Osten der DDR, stürmten Demonstranten die lokalen Machtzentralen. Innerhalb weniger Stunden wurden insgesamt 140 Partei- oder Verwaltungsobjekte besetzt und aus einem Dutzend Gefängnissen fast 1400 Häftlinge befreit. Hätte die sowjetische Führung nicht den Ausnahmezustand verhängt und den Aufstand mit 16 Divisionen ihrer in Deutschland stationierten Truppen niederschlagen lassen, wäre die SED schon 1953 gestürzt worden.

In der Rückschau steht der 17. Juni für den wohl mutigsten Versuch in der deutschen Geschichte, unter den Bedingungen einer Diktatur freie Wahlen zu erzwingen. Denn anders als bei der Novemberrevolution 1918 oder der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 hatten die Herrschenden in den Monaten zuvor ausreichend deutlich gemacht, dass sie zu gnadenlosem Terror bereit waren.

Bereit zu gnadenlosem Terror – Schauprozess mit Todesurteil gegen den Widerstandskämpfer Johann Burianek 1952 (2)

Im Juli 1952 hatte die SED öffentlich verkündet: „Es ist zu beachten, dass die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen.” Zehntausende waren seitdem wegen Nichtigkeiten zu langen Zuchthausstrafen verurteilt worden, rund 20 000 warteten noch auf ihren Prozess. Dass sich die Proteste trotzdem in diesem Umfang Bahn brachen, zeigt, dass die Bevölkerung reale Hoffnungen auf einen Regimewechsel hatte.

Dass dies heute kaum mehr präsent ist, hat vor allem damit zu tun, dass Geschichte in der Regel von ihrem Ende her betrachtet wird. Dabei verkürzen sich historische Prozesse auf ihr Ergebnis. Im Fall des Aufstands am 17. Juni geht dadurch die ungewöhnliche Kraft verloren, mit der ein Großteil der Ostdeutschen 1953 gegen das sozialistische Regime aufbegehrte.

Zudem standen bei der Betrachtung lange Zeit die Ereignisse in Berlin im Vordergrund, wo der sowjetische Truppeneinsatz bereits am Vormittag begann. Wie Zaungäste konnten westliche Journalisten und Fotografen zusehen, als Panzer und Infanterie die Menschen rund um den DDR-Regierungssitz verjagten. Doch in vielen Orten der DDR erfolgte die Intervention erst deutlich später, weil die Einheiten erst herangeschafft werden mussten. Der Aufstand entwickelte sich deshalb dort oftmals erheblich weiter als in Berlin.

Truppeneinsatz bereits am Vormittag – Schaulustige beobachten sowjetische Panzer am Potsdamer Platz in Berlin

Verkürzt ist das Bild der Erhebung auch noch in anderer Beziehung. In fast allen Darstellungen ist es ein Aufstand ohne Gesicht. Wie auf dem Foto vom Potsdamer Platz waren es scheinbar namenlose Menschen, die gegen das Regime der SED aufbegehrten. Obwohl die Archive der DDR seit mehr als drei Jahrzehnten offen stehen, hat sich an dieser Leerstelle bis heute nur wenig geändert. Selbst Geschichtslehrer können meist keinen einzigen Aufständischen mit Namen nennen.

Bilder einer Revolution

Fotos der Erhebung – oft vom Staatssicherheitsdienst beschlagnahmt, um Teilnehmer zu identifizieren – vermitteln dagegen einen ganz anderen Eindruck als der Schnappschuss aus Berlin. Auf einem Bild aus Halle, das die Stasi aus Filmaufnahmen des Kameramanns Albert Ammer herausschnitt, sieht man einen Zug fröhlicher Menschen, die lachend in die Kamera winken, vorneweg der spätere Sprecher des Zentralen Streikkomitees Herbert Gohlke, ein Blumenhändler und ehemaliger Landrat der Liberal-Demokratischen Partei. Auf einem anderen blockiert eine riesige Menschenmenge einen Polizeilastwagen, während ein Demonstrant unter der Motorhaube gerade den Antrieb lahmgelegt. Auf weiteren ist eine kahlgeschorene Frau in Häftlingskleidung zu sehen, die soeben aus dem Gefängnis befreit wurde und ersichtlich ihr Glück kaum zu fassen weiß. Es sind Szenen der Befreiung – nicht der Unterdrückung.

Ähnliche Bilder gibt es auch aus anderen Orten. Auf Fotos aus Bitterfeld sieht man, wie sich eine unüberschaubare Menschenmasse auf einem ausgedehnten Platz um einen Lastwagen drängt, auf dem der Streikführer Paul Othma gerade eine Rede hält. Aufnahmen aus Görlitz, Leipzig oder Jena zeigen, wie Menschen in Arbeitskleidung mit freudigen Gesichtern durch die Innenstadt ziehen oder sich fordernd vor den Machtzentralen des SED-Staates versammeln. Auch viele Frauen sind dabei, manche in Arbeitskitteln, andere mit Einkaufstaschen und einige sogar in modischen Sommerkleidern. Nur Transparente sind so gut wie nie zu sehen – denn niemand hatte geplant, an diesem Tag auf die Straße zu gehen.

Keine Transparente – Kundgebung in Bitterfeld mit von der Stasi erzwungener Beschriftung durch Paul Othma (3)

Eine Bilderserie aus Magdeburg zeigt eine große Schar Demonstranten, die in den Hof des Polizeipräsidiums vorgedrungen ist. Während sich einige an den Fenstern des benachbarten Gefängnisses zu schaffen machen, schauen die anderen erwartungsvoll zu. Auf dem Balkon des Gebäudes steht eine Gruppe Aufständischer und spricht zu einer wartenden Menge, vielleicht über die erfolglosen Verhandlungen mit dem Chefinspektor der Polizei über die Freilassung der politischen Gefangenen. Keine 24 Stunden später wird der Initiator des Gesprächs, der 36 Jahre alte Herbert Stauch, Inhaber einer kleinen Teigwarenfabrik und CDU-Mitglied, von einem sowjetischen Militärtribunal zum Tode verurteilt und anschließend erschossen.

DDR-Polizisten oder andere Einsatzkräfte sind auf nahezu keinem Foto zu sehen. Tatsächlich stand der Sicherheitsapparat der SED den Protesten am 17. Juni weitgehend hilflos gegenüber und zeigte starke Auflösungserscheinungen. Selbst als im Laufe des Tages sowjetische Truppen einrückten, führte dies den Bildern zufolge nicht zu einem Ende der Demonstrationen. Die Panzer, deren Luken anfangs offen stehen, werden eher erstaunt als erschrocken betrachtet, oft sind sie von Menschen umringt. Auf einem Bild aus Halle sieht man, wie ein Rotarmist gerade Anweisungen erteilt, was auf die Umstehenden jedoch wenig Eindruck zu machen scheint. In Rathenow lächeln zwei Frauen weiter in die Kamera, obwohl direkt neben ihnen sowjetische Militärfahrzeuge und Soldaten aufgezogen sind.

Vom Streik zum Aufstand

Der Eindruck, den die Bilder vermitteln, wird durch Zeitzeugenberichte und Dokumente bestätigt. In vielen Orten der DDR hatte die SED am 17. Juni die Macht für Stunden verloren. Die Ereignisse folgten dabei fast immer demselben Muster: In der ganzen DDR bildeten sich am Morgen in den Betrieben kleine Diskussionsgruppen, die über die Ereignisse in Berlin debattierten, von denen sie aus westlichen Radiosendern erfahren hatten. Oft führte dies zu einer Versammlung, auf der beschlossen wurde, ebenfalls in den Streik zu treten. Vielerorts zogen die Arbeiter danach in die Innenstadt, wo sich dem Protestzug zahllose Passanten und andere Beschäftigte anschlossen. Ob am Ende eine Kundgebung stattfand, hing meist davon ab, ob ein Lautsprecher beschafft werden konnte.

Marsch in die Innenstadt – Arbeiter und Passanten am Vormittag des 17. Juni in der Leipziger Innenstadt (4)

Teile der so zusammengekommenen Demonstranten versammelten sich auch vor den Zentralen von SED, FDJ oder dem DDR-Gewerkschaftsbund FDGB. Meist rissen sie dort die Propagandaparolen an den Fassaden ab, irgendwann stürmten sie die Gebäude. Andere zogen vor die Haftanstalten oder Stasi-Dienststellen, um die dort vermuteten politischen Gefangenen zu befreien. In einer Reihe von Orten bildeten sich Räte, die die Macht übernahmen.

Schon in der ersten Phase herrschte vielerorts eine revolutionäre Stimmung. Als sich etwa die 12.000 Beschäftigten der Farbenfabrik Wolfen auf dem Hof des Werksgeländes versammelten, versuchte der SED-Kreissekretär von Bitterfeld, sie mit einem Lautsprecherwagen zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen. Ein Streikender nahm ihm jedoch das Mikrophon weg, forderte den Rücktritt der Regierung und rief zu einer Demonstration auf. Als der Parteisekretär daraufhin den Werksleiter aufforderte, auf seine Mitarbeiter beruhigend einzuwirken, lehnte der mit der Begründung ab, „er ließe sich nicht von der Masse schlagen.” Ähnliche Szenen spielten sich auch in anderen Betrieben ab.

Nach kurzer Zeit setzte sich vielfach ein Protestzug von – je nach Größe des Betriebes – mehreren Hundert oder Tausend Menschen in Bewegung. In breiten Kolonnen marschierten die Arbeiter in die Innenstadt und machten dabei lautstark ihrem Unmut Luft. So berichtete ein SED-Genosse aus Leipzig, die Eutritzscher Straße sei schwarz vor Menschen , die „Nieder mit der Regierung“ und „Freie Wahlen“ forderten. „Die Bilder des Genossen Stalin und alle Losungen werden heruntergerissen.“ Berichte dieser Art sind auch aus vielen anderen Städten überliefert. Ein Zeitzeuge, damals ein Junge von neun Jahren, erinnerte sich zum Beispiel an den Sturz des riesigen Stalin-Porträts am Stadtpark in Halle: „Unter tosendem Beifall krachte das Bildnis mitten auf den Platz und Tausende Füße stampften darüber. Meine Mutter drückte mich fest an sich und Freudentränen rannen wie ein Wasserfall über ihre Wangen.“

Am 17. Juni 1953 demonstrieren in der Görlitzer Innenstadt Zehntausende Menschen gegen die SED-Herrschaft. Demonstranten entfernen, wie hier, überall die Propagandaparolen am Straßenrand.
„Freudentränen rannen über ihre Wangen“ – Demonstranten entfernen in Görlitz ein Propagandaplakat (5)

Während sich die Demonstrationszüge in Berlin unkoordiniert durch das Zentrum bewegten, strömten die Arbeiter in den Mittel- und Kleinstädten meist zielstrebig auf den zentralen Platz des Ortes. Dort kam es dann vielfach zu emotionalen Szenen. „Ein ungeheuerlicher Jubel setzte ein“, erinnerte sich etwa Friedrich Schorn an den Moment, als er mit 20.000 Kollegen aus den Leuna-Werken auf dem Nulandtplatz in Merseburg eintraf. „Fremde Menschen, jung und alt, fielen einander in die Arme, und viele weinten.“ Ein anderer Augenzeuge beschrieb die Atmosphäre so: „Eine euphorische Stimmung hatte alle ergriffen. […] Es war wie ein Rausch, der die Menge erfasst hatte, in der sich Wildfremde umarmten, Frauen weinten und Parteigenossen sich verstohlen ihrer Abzeichen entledigten.“ Schorn, ein 39jähriger Rechnungsprüfer, wurde von der Menge zum Vorsitzenden eines überbetrieblichen Streikkomitees bestimmt, das rund 120.000 Menschen repräsentierte.

Dort, wo es mit Hilfe gekaperter Lautsprecherwagen oder des beschlagnahmten Stadtfunks zu Kundgebungen kam, waren auch die Reden von berührender Euphorie bestimmt. „Liebe Freunde,“ begann Paul Othma seine Ansprache auf dem Marktplatz in Bitterfeld, „wenn ich heute Eure strahlenden Gesichter sehe, dann möchte ich Euch am liebsten umarmen und an mein Herz drücken. Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.“ Und auf dem Görlitzer Obermarkt, wo sich am Vormittag 30000 bis 40000 Menschen versammelt hatten, erklärte ein Redner unter stürmischem Beifall: „Wir wollen hier keine großen Debatten schwingen oder uns gegenseitig reizen, es hat ja keinen Zweck. […] Und was geschehen ist, daran können wir nichts mehr ändern. Wir können nur noch heute weiter sehen, dass bei uns mal wieder ein Licht aufblüht, dass wir freie deutsche Bürger sind.“ Die Übertragung und den Mitschnitt der Reden hatte der Radiohändler Arthur Hellwig bewerkstelligt, er wurde dafür zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.

Erstürmung der Machtzentralen

Als Akt der Befreiung kann man auch die Besetzung Dutzender Partei- und Regierungsgebäude deuten. Hier fällt vor allem die Hilflosigkeit der machtverwöhnten Funktionäre ins Auge, wenn die zur Bewachung eingesetzten Polizisten entwaffnet worden waren oder kapituliert hatten. Über die Lage in der Leipziger FDJ-Bezirksleitung berichtete zum Beispiel ein Genosse am Nachmittag: „Die FDJ’ler sind alle heraus. […] Das Haus ist voller Menschen im Alter von 22 Jahren ab 16 Jahren. […] Die Bilder von Stalin, Pieck, Ulbricht und Grotewohl wurden heruntergerissen. Ernst Thälmann ließ man hängen, da ‚er bleiben könne‘“. Auch anderswo wurden Propagandabilder und Büsten, Schreibmaschinen und Akten zerstört. Zuweilen kam es auch zu tätlichen Auseinandersetzungen. In Halle flüchtete sich die SED-Bezirksleitung deshalb in die obere Etage, der Vorsitzende des Rates des Bezirkes versteckte sich in einer Besenkammer.

Propagandalosungen heruntergerissen – Belagerung der SED-Kreisleitung auf dem Holzmarkt in Jena (6)

Etwas anders war die Lage bei den Polizei- und Stasi-Dienststellen. Hier waren die Beschäftigten in der Regel bewaffnet, durften allerdings auf Geheiß der Sowjets anfangs nur Warnschüsse abgeben. Im Innern machte sich deshalb oft Panik breit, wenn Hunderte Demonstranten Einlass begehrten und irgendwann die Scheiben einschlugen oder die Türen aufbrachen. In Bitterfeld ließ der Leiter der Stasi-Kreisdienststelle vorsorglich diverse Akten verbrennen und setzte sich dann ab, in der Stadt wurden unterdessen die Namen von Spitzeln über Lautsprecher bekannt gegeben. In Jena warfen die Besetzer Akten und Karteikarten in die Saale, während ein Stasi-Mitarbeiter auf dem Marktplatz Fragen zu seiner Arbeit beantworten musste. Im sächsischen Niesky wurden der Leiter der Kreisdienststelle und drei seiner Mitarbeiter nach stundenlanger Belagerung in den Hundezwinger gesperrt.

Eine Befreiung im wahrsten Sinne des Wortes war schließlich die Erstürmung der Haftanstalten. Die großen Gefängnistore wurden dabei oftmals mit Baumstämmen oder Lkws aufgerammt. Leisteten die Wärter wie in Jena keinen Widerstand, verliefen die Ereignisse unblutig. In Bitterfeld und Görlitz sichtete man sogar gemeinsam die Akten, um zu entscheiden, wer aus politischen Gründen in Haft war und deshalb auf freien Fuß gesetzt werden sollte. In Halle und Magdeburg-Neustadt wurden bei der Eroberung gleich sämtliche Zellen geöffnet. Dagegen kamen in Leipzig und Magdeburg-Sudenburg bei den Kämpfen sechs Menschen durch Schüsse ums Leben.

Mit Baumstämmen aufgerammt – Demonstranten am 17. Juni im Gefängnishof in Magdeburg-Sudenburg (7)

Nicht nur in vielen Städten, sondern auch in einer Reihe von Dörfern brach die Diktatur der SED am 17. Juni zusammen. So zogen erboste Bauern in Schafstädt im Kreis Merseburg zur Kolchose „Friedrich Engels“, rissen dort Schilder und Fahnen ab und verprügelten den Parteisekretär. In Milzau stießen sie den SED-Chef kurzerhand vom Fahrrad, als er ihnen die Verhängung des Ausnahmezustands mitteilen wollte. Der Bürgermeister, der unterschreiben musste, dass ein vertriebener Bauer seinen Hof zurückerhält, wurde in die Mistgrube gestoßen. In Zodel bei Görlitz, wurden die örtlichen Funktionäre mit einer Flaggenschnur zusammengebunden und an der Spitze eines Demonstrationszuges durchs Dorf geführt. Im thüringischen Eckolstädt hatte der Aufruhr solche Ausmaße angenommen, dass die Sowjets das Dorf wochenlang mit Panzern umstellten.

In mehreren Orten übernahmen die Aufständischen sogar bereits die Macht. In Bitterfeld bezog das überbetriebliche Streikkomitee gegen Mittag den Sitzungsraum im Rathaus, einen früheren Stadtschulrat ernannte es zum neuen Stadtoberhaupt. Abordnungen nahmen die Kreisdienststelle der Stasi und das Volkspolizeikreisamt unter Kontrolle genommen, um die dort lagernden Waffen vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Sein politisches Programm legte das Komitee in ausführlichen Forderungskatalogen nieder, die der Grundschullehrer Wilhelm Fiebelkorn formuliert hatte.

Auch in Görlitz wurde das Rathaus besetzt. Der Oberbürgermeister – der auf der Kundgebung zuvor für abgesetzt erklärt worden war – musste das Stadtkomitee bevollmächtigen, die politischen Gefangenen freizulassen. Um Plünderungen zu verhindern, wurde eine unbewaffnete Bürgerwehr gebildet. In Halle schickte das Streikkomitee Abgesandte in den Rundfunksender und in eine Zeitungsdruckerei, um seine Forderungen zu verbreiten. In Merseburg ließ das Streikkomitee die Stadt- und Kreisverwaltung besetzen. „Merseburg“, so erinnerte sich der Vorsitzende später, „war um 14 Uhr in unserer Hand.“ Alle Dienststellen der Partei und der Polizei seien besetzt gewesen – bis auch dort sowjetisches Militär den Aufstand niederschlug.

„Um 14 Uhr in unserer Hand“ – Aufständische sprechen vom Balkon des Polizeipräsidiums in Magdeburg (8)

Der vergessene Aufstand

Das alles ist jetzt 70 Jahre her und von den hier erwähnten Anführern des Volksaufstands in der DDR ist niemand mehr am Leben. Auch im kollektiven Gedächtnis der Deutschen spielen die Ereignisse des 17. Juni nur noch eine geringe Rolle. Besonders Jüngere und Zugezogene wissen mit dem Datum in der Regel nichts mehr anzufangen. Das Jubiläum in diesem Jahr könnte das letzte sein, an dem der Erhebung breiter gedacht wird.

Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf verschiedenen Ebenen. In Ostdeutschland wurde der Aufstand jahrzehntelang als „faschistischer Putschversuch“ stigmatisiert, eine Lesart, die sich auch die meisten prominenten DDR-Intellektuellen zu Eigen machten. Selbst der Dissident Robert Havemann vertrat in den 1970er-Jahren die Auffassung, dass die Unruhen „objektiv“ konterrevolutionäre Formen angenommen hätten. Auch die Bürgerrechtler der späten 1980er-Jahre wagten es nicht, die Aufständischen zu würdigen, nicht einmal privat suchten sie Kontakt.

In Westdeutschland wurde zwar bereits 1953 beschlossen, den 17. Juni als „Tag der deutschen Einheit“ zum einzigen bundesgesetzlichen Feiertag zu erklären, auf Vorschlag der SPD übrigens. Doch für viele Bundesbürger hatte sich das Geschehen weit weg in einem anderen Staat abgespielt. Zudem stand die Erinnerung daran seit den 1970er-Jahren in wachsendem Gegensatz zur Entspannungspolitik, denn diese setzte auf ein gutes Verhältnis zu den Machthabern im Osten. So traf sich Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in Erfurt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph, der als Innenminister die Massenverhaftungen nach der Niederschlagung des Aufstands veranlasst hatte. Die Grünen hielten die Erinnerung an den 17. Juni gar für ein Relikt des Kalten Krieges und boykottierten nach ihrem Einzug in den Bundestag die jährliche Gedenkstunde.

Gedenken boykottiert – Bundeskanzler Willy Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph 1970 in Erfurt (9)

Gravierende Auswirkungen hatte jedoch vor allem der Einigungsvertrag. Dort wurde 1990 festgelegt, den 17. Juni als Nationalfeiertag abzuschaffen und den 3. Oktober an seine Stelle zu setzen. Eine ganze Generation ist seitdem herangewachsen, die sich niemals die Frage stellen musste, warum an diesem Tag wohl Schulen und Geschäfte geschlossen sind.

Mindestens ebenso relevant sind freilich auch die Versäumnisse von Politik, Schulen und Medien, das historische Erbe zu pflegen. Das Beispiel der Geschwister Scholl zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, ein weit zurückliegendes Ereignis auch ohne Feiertag im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Bestätigt wird dies von Umfragen im Jahr 2003: Als der Aufstand zu seinem 50. Jahrestag überraschend breit gewürdigt wurde, stieg der Anteil derer, die wussten, was am 17. Juni geschah, innerhalb weniger Wochen von 52 auf 68 Prozent, bei den unter 30-jährigen sogar von 20 auf 50 Prozent.

Bei einer Veranstaltung über die Ereignisse meldete sich kürzlich eine junge Frau aus Thüringen zu Wort und sagte, sie höre zum ersten Mal davon, dass der 17. Juni einmal Feiertag gewesen sei. Sie frage sich, warum der Berliner Senat nicht dieses Datum, sondern den 8. März als zusätzlichen Feiertag gewählt habe. Diese Frage könnte man auch dem Bundestag stellen, wenn er in der kommenden Woche über die Anträge der Fraktionen zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes berät.

Lesetipp: Hubertus Knabe, 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2023.

Bildnachweis
(1) Bundesarchiv, Bild 183-17200-0001 / Krueger / CC-BY-SA 3.0
(2) Bundesarchiv, Bild 183-14812-007 / Quaschinsky, Hans-Günter / CC-BY-SA 3.0
(3) Bundesarchiv/BStU, MfS_BV_Hle+AU+13-54+Bd_2_Seite_0159
(4) Bundesarchiv/BStU, MfS BV Lpz Leitung 262 Bild6
(5) Bundesarchiv/BStU, MfS_BV_Ddn+AKG+Fo+10745+Bild_0021
(6) Bundesarchiv/BStU, MfS_BV_Gera+AS+20-74+Seite_0074_Bild_0003
(7) Bundesarchiv/BStU, MfS_BV_Mgb+Abt_IX+6+Seite_38
(8) Bundesarchiv/BStU, MfS_BV_Mgb+Abt_IX+6+Seite_0032 Polizei
(9) Bundesarchiv, B 145 Bild-F031406-0017 / CC-BY-SA 3.0

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