Vor 20 Jahren starb der Schriftsteller Jürgen Fuchs. Wie kaum ein anderer legte er in seinen Büchern bloß, wie die sozialistische Diktatur im Osten Deutschlands funktionierte. Seine Beschreibungen des Lebens in der DDR erscheinen heute wie zeitlose Kammerstücke über menschliches Verhalten in der Diktatur. Trotzdem ist der Dissident weitgehend in Vergessenheit geraten. Warum?
Von Hubertus Knabe
Es war ein langer Trauerzug, der dem Sarg des Schriftstellers folgte, als er am 15. Mai 1999 auf dem Berliner Heidefriedhof beigesetzt wurde. Mehr als 400 Verwandte, Freunde, Autoren und politisch Engagierte waren gekommen, um Jürgen Fuchs die letzte Ehre zu erweisen. Viele bewunderten die sanfte Klarheit, mit der er die Mächtigen in der DDR bekämpft hatte. Dass er nun, im Alter von 48 Jahren, überraschend einer Blutkrebserkrankung erlegen war, erschien vielen „nicht gottgewollt“ – wie es einer seiner Freunde, der in der DDR inhaftierte Pfarrer Matthias Storck, bei der Trauerfeier formulierte.
20 Jahre sind seitdem vergangen und nur noch wenige erinnern in diesen Tagen an den frühen Tod des Dissidenten. Obwohl er seinen Kampf gegen die DDR-Obrigkeit mit großem Talent auch über die Medien führte, ist er in Deutschland heute weitgehend in Vergessenheit geraten. In den Feuilletons interessiert sich niemand mehr für einen Literaten, der die menschlichen Abgründe des Lebens in der DDR festhielt. Und die politische Öffentlichkeit ist gerade dabei, die vermeintlichen Vorzüge des Sozialismus wiederzuentdecken. Nur in Gera haben ein paar Freunde eine Gedenkveranstaltung organisiert.
Dass Jürgen Fuchs immer weniger Menschen bekannt ist, sagt viel über das heutige Deutschland aus. Mit seinem Beharren auf Wahrhaftigkeit scheint er nicht mehr in die Zeit passen. Nach dem Sturz der SED-Herrschaft störte er nicht nur den Wiederaufstieg der entmachteten DDR-Eliten, sondern auch das Harmoniebedürfnis des westdeutschen Establishments. Dabei zeigt sein Schicksal vor allem eins: Dass ein „Leben in der Wahrheit“ – wie es der tschechische Schriftsteller Vaclav Havel nannte – auch unter widrigen Bedingungen möglich ist.
Dissident wider Willen
Dass Jürgen Fuchs einmal zum feinsinnigsten Kritiker der SED-Diktatur werden würde, war keineswegs vorauszuahnen. Am 19. Dezember 1950 im sächsischen Reichenbach in einer Arbeiterfamilie geboren, entwickelte er schon in seiner Schulzeit ein großes Interesse für Literatur und Philosophie. Als er nach seinem Wehrdienst einen Studienplatz für Sozialpsychologie ergattern konnte, schrieb er schon regelmäßig eigene Gedichte, von denen einige in der DDR-Reihe „Offene Fenster“ erschienen.
Doch wie viele seiner Altersgenossen rieb sich Jürgen Fuchs am Widerspruch zwischen sozialistischer Utopie und kleinbürgerlicher Realität in der DDR. Er war fasziniert von den Ideen Hegels, Marx‘ und Lenins, die im krassen Gegensatz zum Alltag im real existierenden Sozialismus zu stehen schienen. Als er mit 17 Jahren Viktor Klemperers Buch „LTI“ über die Sprache des Dritten Reiches in die Hände bekam, war er bestürzt über die Parallelen zur Staatsprache der DDR. Der junge Autor nahm sich vor, Klartext zu schreiben, und entwickelte früh einen eigenen Stil.
Dabei sah sich Jürgen Fuchs nicht als Gegner des Sozialismus. Im Gegenteil: Um die Verhältnisse zu verändern, stellte er 1973 einen Antrag auf Aufnahme in die SED. In der FDJ-Leitung seiner Fakultät war er für Kultur verantwortlich. Wolf Biermann und Robert Havemann, die beiden in dieser Zeit berühmtesten DDR-Dissidenten, die er damals kennenlernte, bestärkten ihn auf diesem Weg. Die Stasi versuchte sogar (vergeblich), ihn als Informanten anwerben.
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Wurden die kritischen Texte des jungen Autors anfangs noch geduldet, änderte sich dies bald. Im März 1975 wurde er von der Parteileitung der Universität Jena vorgeladen. Ein vielköpfiges Tribunal saß über ihn zu Gericht und warf ihm vor, mit seinen Texten die sozialistische Ordnung in der DDR zu verleumden. Da er keine Selbstkritik übte, beschloss man, ihn aus der SED auszuschließen. Wenig später erfolgte sein Ausschluss aus der FDJ. Im Juni wurde er wegen „Schädigung des Ansehens der Universität in der Öffentlichkeit“ vom Studium an allen DDR-Hochschulen ausgeschlossen.
Ohne Abschluss, ohne Beruf und ohne Geld zogen Jürgen Fuchs, seine Frau Lilo und ihre gerade geborene Tochter Lili zu Robert Havemann nach Grünheide bei Berlin. Die junge Familie fand Unterschlupf in einem kleinen Holzhaus auf dessen Grundstück. Der damals 24-Jährige geriet dadurch ins Zentrum des Widerstands gegen die SED-Diktatur.
In Grünheide diskutierte Jürgen Fuchs fast täglich mit dem Altkommunisten, der sich zum Dissidenten gewandelt hatte. Da Havemann viele führende Genossen persönlich kannte, entzauberte er die in der DDR wie Halbgötter behandelten Funktionäre. In der Nazi-Zeit war er zum Tode verurteilt worden und mit Parteichef Erich Honecker hatte er gemeinsam im Zuchthaus Brandenburg gesessen – da ließ er sich auch von der Stasi keine Angst mehr einjagen. Und diese furchtlose Haltung gab er an den jungen Autor weiter.
Im Stasi-Gefängnis
Als die DDR nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann von einer Protestwelle erschüttert wurde, beteiligte sich Jürgen Fuchs maßgeblich daran. Für einen Appell prominenter Schriftsteller sammelte er in der ganzen DDR Unterschriften und westdeutschen Medien gab er Telefoninterviews, in denen er die Maßnahme scharf kritisierte – bis Havemanns Telefonanschluss gesperrt wurde. Als beide am 19. November 1976 mit mehreren Unterschriftenlisten zum Ost-Berliner Büro des Spiegel fahren wollten, wurde Fuchs aus dem Auto heraus verhaftet.
Als der Schriftsteller ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen kam, war er 25 Jahre alt. Neun Monate war er den Verhörspezialisten des DDR-Staatssicherheitsdienstes ausgeliefert. Er sollte sich selbst belasten, seine Freunde verraten und sich von Biermann und Havemann distanzieren. Die Stasi bot ihm die Freilassung an, wenn er kooperierte. Doch wie Sophie Scholl bei der Gestapo – die nur drei Tage verhört wurde – ließ sich Fuchs auch in monatelanger Haft nicht dazu bewegen, andere zu verraten. Stattdessen verfiel er in monatelanges Schweigen. Kein anderer Stasi-Häftling hat es so lange durchgehalten hat wie er.
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Möglich wurde diese Form des Widerstandes nicht nur durch Fuchs‘ außergewöhnliche Willensstärke. Geholfen hat ihm auch seine literarische Methode, sich zum genauen Beobachter des Geschehens zu machen. Während die Vernehmer sich abmühten, eine wirksame Vernehmungsmethode für ihn zu finden, schaute er ihnen mit geradezu wissenschaftlichem Interesse bei der „Arbeit“ zu. Auf unsichtbare Weise verkehrte er damit die Rollen – und entzog sich damit partiell dem Druck, der auf ihm lastete.
Weil Jürgen Fuchs im Gefängnis weder Stift noch Papier bekam, konnte er sich nur unsichtbare Notizen machen – mit dem Finger oder einem „Stift“ aus Schokoladenpapier auf der Tischplatte und manchmal nur in der Luft. Mit Hilfe dieser Methode, die die Vernehmer nicht zu deuten wussten, entstand in seinem Kopf ein Tagebuch, das ihm auch bei den regelmäßigen Zellenkontrollen niemand nehmen konnte. Sechs Wochen nach seiner Freilassung erschien es als Serie im Spiegel und bald darauf auch als Buch.
Vernehmungsprotokolle
Ein Blick in die echten Vernehmungsprotokolle der Stasi zeigt, wie präzise sich Jürgen Fuchs die Geschehnisse eingeprägt hatte. Bis auf den Tag genau stimmen seine Erinnerungen mit den Dokumenten überein. Liest man die 88 Verhörprotokolle und die über 60 Seiten Vernehmungspläne, erschrickt man noch heute über die Gnadenlosigkeit, mit der die Stasi-Mitarbeiter den jungen Autor in die Mangel nahmen.
Sein erster Vernehmer war der damals 36jährige Major Peter Gabbe, ein Mann mit krakeliger Handschrift, der in der Ermittlungsabteilung stellvertretender Referatsleiter war. Dem Stasi-Mann erklärte Fuchs am Tag seiner Festnahme, er hätte nur drei Punkte vorzutragen: „1. Ich protestiere gegen meine Verhaftung! 2. Ich fordere meine unverzügliche Freilassung! 3. Ich spreche nicht mit Leuten, die einen unbequemen Literaten einsperren!“.
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Die Stasi schickte daraufhin den Referatsleiter Manfred Eschberger zur Verstärkung; Fuchs schilderte ihn als besonders aggressiv. Er war Spezialist für „feindliche Untergrundtätigkeit“, dem man „ausgezeichnete Resultate“ bei deren Aufklärung bescheinigte. Heute arbeitet er in Berlin als Sozius einer Anwaltskanzlei.
Um Fuchs Widerstand zu brechen, versuchte es die Stasi in der Folgezeit noch mit drei weiteren Vernehmern. Doch sie alle bissen sich an ihm die Zähne aus. Hilflos hielt die Stasi am 7. Januar 1977 fest, „dass Fuchs teilweise nicht mehr auf die seitens des Unterzeichners gestellten Fragen eingeht und mittels seines Fingers Buchstaben und Wortverbindungen imaginär im freien Raum oder auf die Tischplatte malt.“ Später hieß es in den Verhörprotokollen nach jeder Frage nur noch: „Der Beschuldigte reagiert nicht auf die ihm gestellte Frage.“
Am 7. Dezember 1976 verfasste Fuchs eine handschriftliche Erklärung, dass er nicht in der Lage sei, unter „Bedingungen von massivem psychischen Druck Aussagen zu machen“. Er beklagte sich über eine „Atmosphäre verbaler Herabsetzung und Entwürdigung“, indem man ihn als „Schwindler“, „Lügner“ oder „Hochstapler“ beschimpfe. Zudem berichtete er von „nonverbalen Druckmethoden“ durch „Erhöhen der Lautstärke der gesprochenen Worte in den Bereich der massiven Drohung.“ Nur wenige Stasi-Häftlinge haben ihren Vernehmern in dieser Weise den Spiegel vorgehalten.
Fuchs‘ Weigerung auszusagen muss eine enorme psychische Belastung gewesen sein. Seine Hoffnung, gemäß DDR-Strafprozessordnung nach drei Monaten wieder freizukommen, erwies sich als Illusion. Das Ermittlungsverfahren wurde einfach immer wieder verlängert. In seinem Roman Magdalena notierte Fuchs später: „Schweigen ist anstrengend und auch gefährlich. Die Psychose winkt, der eigene geschlossene Raum, der Einschluss nach innen.“ Im Dezember 1976 erlitt er einen Kreislaufkollaps und kam ins Haftkrankenhaus der Stasi.
Nach einem halben Jahr Gefängnis war Jürgen Fuchs am Ende seiner Kräfte. In einer handschriftlichen Erklärung teilte er mit, dass ihm nach einem Gespräch mit dem DDR-Anwalt Wolfgang Vogel klar geworden sei, dass sein Schweigen das Verfahren verzögere. Er betrachte sich zwar nach wie vor als DDR-Schriftsteller, der sich zu Unrecht in Haft befinde, sei aber bereit, „auf schriftlich gestellte Fragen (und bei Vorlage eventueller Beweismittel) zu antworten.“
Die Vernehmer wähnten sich endlich am Ziel. Doch statt auf ihre Fangfragen zu antworten, begann Fuchs nun, der Stasi seine politischen Auffassungen zu diktieren. Stundenlang schrieb der Vernehmer seine Ausführungen nieder, bis ihm, wie der Schriftsteller später berichtete, die Hand schmerzte. Strafrechtlich verwertbar waren die Aussagen nicht.
Am 31. Mai 1977 ließ Fuchs den Vernehmer zum Beispiel seitenlang seine Erfahrungen mit dem Staatssicherheitsdienst aufschreiben. Anschließend äußerte er sich ausführlich über die Parallelen zwischen dem Preußischen Staat und der DDR. Unter Berufung auf Marx diktierte er dem Vernehmer: „Es gibt nur eine Bürokratie und dort wo sie eintritt, ist sie nicht freundlicher als im Preußischen Staat, sondern es ist furchtbarer und zugleich eine größere Aufgabe, diese Art von Staatsformalismus im Sozialismus unmöglich werden zu lassen.“
Im Juni 1977 zeigte ihm der Vernehmer einen Artikel aus dem SED-Zentralorgan Neues Deutschland, in dem der Eurokommunismus scharf kritisiert wurde. Für Fuchs muss dies ein schwerer Schlag gewesen sein, denn wie Havemann und Biermann hatte er gehofft, dass sich die DDR über dessen Einfluss reformieren ließe. Unmittelbar darauf teilte er mit, dass er einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik stellen wolle.
Schlagartig erlosch nun das Interesse der Vernehmer, die angeblichen Straftaten des Schriftstellers zu beweisen. Jetzt ging es nur noch darum, ihn außer Landes zu bekommen. Da er die Zustimmung seiner Frau zur Bedingung gemacht hatte, ließ man ihn noch einmal wochenlang in der Zelle schmoren. Ende August setzte ihm Anwalt Vogel dann die Pistole auf die Brust: Entweder er verlasse die DDR, oder er und seine Mitstreiter blieben auf unbestimmte Zeit in Haft. Fuchs kapitulierte und unterschrieb den Ausreiseantrag. „Im Ergebnis zentraler Weisungen“ wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt.
Am 26. August 1977 schob der Staatssicherheitsdienst Jürgen Fuchs nach 281 Tagen nach West-Berlin ab. Zum Abschied hatte ihm sein Vernehmer noch gedroht: „Legen Sie sich später nicht mit uns an. Wir finden sie überall. Auch im Westen. Autounfälle gibt es überall.“
In der Bundesrepublik
Auf die Einsamkeit der Zelle folgte ein rastloses Leben im Westen. Als Fuchs freigelassen wurde, war er, ohne es zu ahnen, ein bekannter Mann. Dutzende Prominente hatten sich für ihn eingesetzt, jetzt lernte er sie auch persönlich kennen. Er traf Heinrich Böll, Günter Grass und Ralph Giordano. Rudi Dutschke, Helmut Gollwitzer und Heinz Brandt kamen zu ihm zu Besuch. Er gab Pressekonferenzen, saß auf Podien, schrieb Artikel und Erklärungen.
Der Rowohlt Verlag, der noch während seiner Haft seine DDR-Aufzeichnungen unter dem Titel „Gedächtnisprotokolle“ verlegt hatte, publizierte nun in kurzer Folge Fuchs‘ Oeuvre: 1978 erschienen die „Vernehmungsprotokolle“, 1979 und 1981 die Gedichtbände „Tagesnotizen“ und „Pappkameraden“. 1984 folgte „Fassonschnitt“, das die DDR-Armee beschrieb, sowie der Essayband „Einmischung in eigene Angelegenheiten“. 1988 wurde „Das Ende einer Feigheit“ veröffentlicht, und auch im Ausland wurden seine Bücher gedruckt.
Mit seiner Familie bezog Jürgen Fuchs eine Wohnung in West-Berlin. Wie kein anderer unterstützte er nun von dort die DDR-Opposition. Er schaffte verbotene Literatur in den Osten, war Anlaufstelle für Journalisten und organisierte Proteste gegen Verhaftungen. Statt an seiner Karriere als Literat zu arbeiten, kämpfte er für die Freilassung Rudolf Bahros, für die Aufhebung des Hausarrestes von Robert Havemann oder für die Haftentlassung von Roland Jahn. Und er motivierte andere, ebenfalls etwas zu tun – zum Beispiel die Grünen-Gründerin Petra Kelly, die die DDR-Oppositionelle Bärbel Bohley besuchen sollte, oder den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, den er bat, demonstrativ bei der Familie eines Verhafteten anzurufen. Bald knüpfte Fuchs auch enge Kontakte zur Opposition in Polen und in der Tschechoslowakei.
Genau dies machte Jürgen Fuchs in den Augen der Stasi zur damals wichtigsten Feindperson im Westen. Er wurde deshalb auch im freien West-Berlin massiv überwacht. Seine Telefonate in die DDR wurden abgehört, Inoffizielle Mitarbeiter (IM) forschten ihn und seine Familie aus. 1982 erließ die DDR einen Haftbefehl, weil er „zum Nachteil der Interessen der DDR zielgerichtet Nachrichten über Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte in der DDR und über Maßnahmen staatliche Organe der DDR“ sammeln würde. Da Fuchs vorsichtig genug war, sich nicht mehr in den Machtbereich der Stasi zu begeben, griff diese zu sogenannten Zersetzungsmaßnahmen: eine bis dahin unbekannte Art staatlich organisierten Psychoterrors mit anonymen Briefen, nächtlichen Telefonanrufen, massenhaften Bestellungen von Waren und Handwerkern und Schlimmerem.
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Unbekannte durchtrennten an Fuchs‘ Auto die Bremsleitungen, lockerten die Vorderachsen und entfernten die Hauptschrauben am Motorblock. Einmal, 1986, als seine Tochter gerade auf dem Weg zum Briefkasten war, explodierte unweit von ihr eine Autobombe. Die meisten dieser Vorfälle wurden nie aufgeklärt, etwa der angebliche Selbstmord seiner lebenszuversichtlichen Schwiegermutter oder die kriminellen Aktivitäten eines Schlüsseldienstbetreibers aus West-Berlin. Dieser fertigte für die Stasi nicht nur Fuchs‘ Hausschlüssel nach, sondern erhielt auch den Auftrag, ihn radioaktiv zu „markieren“ und unter seinem Hauseingang für eine „spezifische Maßnahme“ einen Gegenstand zu befestigen.
Probleme bekam Fuchs aber noch an anderer Stelle. Wie viele Intellektuelle seiner Zeit verstand er sich als Linker. Dass man sich als solcher gegen Unfreiheit und Unterdrückung einsetzt, war für ihn selbstverständlich. Er tat dies nicht nur im sowjetischen Machtbereich, sondern auch für Inhaftierte in Südamerika oder Südafrika.
Umso unverständlicher war für ihn, wie viele Linke in der Bundesrepublik agierten. Als in Polen 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde, lehnte es viele Intellektuelle ab, sich für die verfolgte Gewerkschaft Solidarnosc einzusetzen – weil diese von der katholischen Kirche unterstützt würde und deshalb reaktionär sei. Noch mehr Ablehnung schlug ihm entgegen, wenn es um Solidarität mit den von der Stasi verfolgten unabhängigen Friedensaktivisten in der DDR ging. Große Teile der westdeutschen Friedensbewegung weigerten sich, diese als Partner anzuerkennen, und kungelten stattdessen mit den Machthabern in der DDR.
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Hautnah erlebte Fuchs dies im Verband deutscher Schriftsteller (VS), dessen West-Berliner Vorsitzender Hannes Schwenger sich nach seiner Verhaftung engagiert für ihn eingesetzt hatte. Unter dem Bundesvorsitzenden Bernd Engelmann agierte der VS wie ein verlängerter Arm der SED. Wie an anderer Stelle dargelegt, wirkte Engelmann über Jahre hinweg als äußerst wirksamer Einflussagent der Stasi. Die jahrelangen Auseinandersetzungen mit ihm und seinen Unterstützern kosteten Fuchs ungeheuer viel Kraft. Ende 1988 trat er schließlich aus dem VS aus.
Umso überraschter zeigte sich der Westen, als die Diktatur der SED unter dem Eindruck von Massenprotesten im Herbst 1989 ins Wanken geriet. Drei Wochen nach dem Mauerfall konnte Fuchs einigermaßen gefahrlos mit Biermann nach Leipzig fahren, wo der Liedermacher in einer eiskalten Halle vor 8000 Menschen sang. Der Schriftsteller wusste nicht, dass der Stasi-Vorgang gegen ihn erst zwölf Tage später wegen „fehlender strafrechtlicher Relevanz“ eingestellt werden sollte.
In dieser Zeit, als die Schlacht um die Entmachtung von SED und Staatssicherheitsdienst noch im vollen Gange war, musste Fuchs die Erfahrung machen, dass die Bürgerrechtler in der DDR die Ausgereisten nicht mehr als ihresgleichen betrachteten. Statt in einer der neuen Oppositionsgruppen Politik zu machen, kümmerte er sich deshalb um die Aufklärung der Machenschaften des Staatssicherheitsdienstes – auch in eigener Sache. Um die „endgültig zu entmachten, die uns quälen“, so erklärte er in einer Rede vor dem Neuen Forum, müsse Zeugnis abgelegt werden. „Aber wir, liebe Freunde, dürfen nicht werden wie sie und nach der Atmosphäre der Angst und des Drucks eine Atmosphäre des Jagens und Richtens dulden.“
Nach der Wiedervereinigung
Der Offenlegung der Vergangenheit stellten sich allerdings starke Kräfte entgegen – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Konnte die heimliche Vernichtung der Stasi-Akten noch von Bürgerrechtlern gestoppt werden, forderten nun auch bundesdeutsche Politiker und Journalisten, sie zu beseitigen oder zumindest per Gesetz für 30 Jahre zu verschließen. Auch Datenschützer und Geheimdienstler wollten den Zugang möglichst wirksam versperren. Fieberhaft forschte Fuchs damals in den eigentlich noch gesperrten Stasi-Akten, um die „Landschaften der Lüge“ endlich aufzudecken.
In dieser Zeit begann für Jürgen Fuchs eine neue Auseinandersetzung, die mit der alten unmittelbar verknüpft war. Als er 1992 nach langen Verhandlungen einen einjährigen Arbeitsvertrag als „Sachbearbeiter“ in der neu gegründeten Stasi-Unterlagen-Behörde erhielt, stellte er erschrocken fest, dass dort zahllose ehemalige DDR-Staatsangestellte und sogar ranghohe Stasi-Offiziere Dienst taten. An die Stelle eines offenen Prozesses der Aufarbeitung trat ein bürokratischer Apparat, der diesen verhinderte und mit seinen Hierarchien, Vorschriften und seiner Sprache selber an die Stasi erinnerte.
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Diese Erfahrung, die auch zu einem Zerwürfnis mit dem damaligen Bundesbeauftragten Joachim Gauck führte, mündete in Fuchs‘ letztes großes Werk „Magdalena“. Der Roman verschränkt die Stasi-Vergangenheit mit der Gegenwart, indem der Ich-Erzähler bei der Suche nach Wahrheit in der Stasi-Unterlagen-Behörde auf eine kafkaeske Atmosphäre des Bürokratismus und des unsichtbaren Widerstands stößt.
Als Fuchs an dem Roman arbeitete, erfuhr er durch Zufall, dass er an einer seltenen Form von Blutkrebs litt. 1995 musste er sich einer Strahlentherapie unterziehen, die bei ihm Symptome auslösten, die ihn an manche Tage in der Untersuchungshaft erinnerten. Ihm fiel auf, dass auch andere inhaftierte Dissidenten früh an Krebs erkrankt waren – so der SED-Kritiker Rudolf Bahro und der Musiker Gerulf Pannach sowie, nach seinem Tod, die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley.
In verschiedenen Dokumenten fand Fuchs Hinweise, dass die Stasi radioaktive Substanzen gegen Menschen eingesetzt hatte. In ihrem Auftrag war an der Humboldt-Universität eine Studie erstellt worden, in der es unter anderem um die „Schädigung durch Beibringung radioaktiver Stoffe“ ging, deren „hohes Verschleierungspotential“ besonders hervorgehoben wird. Mehrere Menschen waren nachweislich von kommunistischen Geheimdiensten mit radioaktiven Strahlen umgebracht worden.
Trotz seiner Krankheit versuchte Fuchs fieberhaft, Licht in das Dunkel zu bringen. Es begann ein Wettlauf gegen den Tod. 1998 konnte er zwar noch miterleben, wie sein über 500 Seiten starker Roman erschien. Doch bald danach verschlechterte sich sein Zustand. Am Nachmittag des 9. Mai 1999 verstarb er in einem Berliner Krankenhaus.
Das Rätsel um den frühen Tod des Dissidenten wurde bis heute nicht gelöst. Eine Projektgruppe der Stasi-Unterlagen-Behörde konnte keine Dokumente finden, die die gezielte Vergiftung von Gegnern der SED-Diktatur belegten – wohl aber für die radioaktive Markierung von Bahros Manuskripten. Ein schriftlicher Beleg war allerdings auch kaum zu erwarten, da die Stasi derartige Machenschaften in dieser Zeit gewöhnlich nicht (mehr) zu Papier brachte. Der Vorschlag der Projektgruppe, bei ehemaligen politischen Häftlingen aus der DDR nach Spuren von Strahlenbelastung zu suchen, wurde ebenso wenig umgesetzt wie die als „zwingend“ bezeichnete strahlentechnische Untersuchung des ehemaligen Stasi-Gefängnisses Berlin-Hohenschönhausen.
Inzwischen ist auch das vorbei. In den öffentlichen Debatten spielt sein Name keine Rolle mehr. In der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen wird bereits gefordert, seinen Verdacht, radioaktiv bestrahlt worden zu sein, aus dem Besucherfilm zu entfernen. Der Tod des Dissidenten ist gleichsam endgültig geworden. Dabei führen seine Texte wie nur wenige andere vor Augen, woran die DDR zugrunde gegangen ist.
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