Triumph der Gewalt

"Friede den Völkern" (мир народам) - Teller des Museums für die politische Geschichte Russlands

Vor 100 Jahren wurde die Sowjetunion gegründet. Möglich wurde dies durch das skrupellose Vorgehen radikaler Marxisten – und durch die Uneinigkeit ihrer Gegner. Manche der damaligen Vorgänge erinnern an die Gegenwart.

Von Hubertus Knabe

vgwort

„Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ – schon der Name steckte voller Unwahrheiten. Die UdSSR, wie sie in Deutschland abgekürzt wurde, war weder eine freiwillige „Union“ unabhängiger Staaten noch herrschten in ihr Arbeiter- und Soldatenräte („Sowjets“). Von „Republik“, also Volksherrschaft, konnte schon gar keine Rede sein, denn Lenin hatte die frei gewählte Verfassungsgebende Versammlung bereits im Januar 1918 auseinanderjagen lassen. Am ehesten passte noch das Wort „sozialistisch“, weil getreu der Lehre von Karl Marx Unternehmer, Gutsbesitzer und Kirchen schon vor der Gründung mit Gewalt enteignet worden waren.

69 Jahre existierte der größte Staat der Welt, dessen Territorium vom fernöstlichen Wladiwostok bis zum westlichen Lwiw an der Grenze zu Polen reichte. 284 Millionen Menschen lebten dort 1989 und damit mehr als damals in den USA. Geographisch war die UdSSR die Fortsetzung des russischen Zarenreiches, das sich seine Kolonien nicht auf anderen Kontinenten gesucht, sondern durch Unterwerfung der Nachbarvölker geschaffen hatte. Doch an der Spitze des Vielvölkerstaates stand nicht mehr ein Monarch, sondern eine kleine Gruppe marxistischer Berufsrevolutionäre.

Putsch und Bürgerkrieg

Dass diese überhaupt an die Macht gelangen könnten, hatten viele für unmöglich gehalten. Unter dem Zaren hatten die Bolschewiki kaum eine Rolle gespielt. Erst der wirtschaftliche und militärische Zusammenbruch Russlands im Ersten Weltkrieg hatte ihnen – mit tatkräftiger Unterstützung des Deutschen Reiches – 1917 größeren Zulauf verschafft. Doch auch als sie am 7. November in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, mit Hilfe sogenannter Roter Garden die russische Regierung verhafteten und einen Rat der Volkskommissare bildeten, war es alles andere als sicher, dass der erste sozialistische Staat der Welt überleben würde.

Mit deutscher Unterstützung – Bewaffnete Rote Garden am Sitz des Rates der Volkskommissare (1)

Denn nach ihrem Putsch sahen sich die Bolschewiki zahlreichen Gegnern gegenüber. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung bekamen sie nur knapp elf der gut 48 Millionen Stimmen. Stärkste Partei wurden statt dessen die Sozialrevolutionäre. Die Kommunisten hatten zwar Moskau und Petrograd unter ihre Kontrolle gebracht, doch es dauerte noch fünf Jahre, bis sie sich im russischen Riesenreich durchsetzen konnten.

Blutige Kämpfe lieferten sie sich nicht nur mit den Resten der ehemaligen Zarenarmee, den sogenannten „Weißen“. Auf Widerstand stießen sie auch bei den Bauern, die sich mit Waffengewalt gegen die Beschlagnahmung ihrer Lebensmittel wehrten ( „Grüne“). Gegen die neuen Machthaber erhoben sich zudem die Kosaken, die Krimtartaren und die Völker an den Rändern des Imperiums, die sich für unabhängig von Russland erklärt hatten. Doch der von Leo Trotzki aus dem Boden gestampften Roten Armee gelang es, die abtrünnigen Gebiete nach und nach zurückzuerobern. Mit der Einnahme von Wladiwostok 1922 war das ehemalige Russische Reich bis auf Finnland, das Baltikum und einige weitere Gebiete wiederhergestellt.

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Die Gründung der UdSSR war dann nur noch eine Formsache. Im Dezember 1922 beorderten die Bolschewiki die Vertreter ihrer Satellitenstaaten Weißrussland, Ukraine und Transkaukasische Föderation nach Moskau, um sich mit der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ zu einem Staat zu vereinen. „Es hat sich als unmöglich erwiesen, die Volkswirtschaft wiederaufzubauen, solange die Republiken nebeneinander bestehen,“ hieß in einer gemeinsamen Deklaration vom 29. Dezember 1922. Zugleich wurde auf „die Labilität der internationalen Lage und die Gefahr neuer Überfälle“ verwiesen, die die Schaffung einer Einheitsfront der Sowjetrepubliken „unvermeidlich“ machten. Die Vertreter unterzeichneten deshalb feierlich einen Vertrag über die Bildung der UdSSR. Da dieser erst am nächsten Tag vom Ersten Allunionskongress der Sowjets abgesegnet wurde, gilt der 30. Dezember als Gründungsdatum der UdSSR.

Nur noch eine Formsache – Unterzeichnung des Vertrages über die Bildung des UdSSR in Moskau (2)

Massenterror und Konzentrationslager

Dass die radikalen Marxisten am Ende alle Widerstände überwinden konnten, hatte vor allem einen Grund: Ihre Bereitschaft, ohne Skrupel massenhaft Gewalt anzuwenden. Schon im Dezember 1917 gründeten sie die „Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ (Tscheka). Unter ihrem Leiter Feliks Dzierżyński ging diese rigoros gegen jeden vor, der sich den Bolschewiki entgegenstellte. Per Telegramm forderte Lenin auch die Parteiführer in den Provinzen auf, den „Massenterror sofort einzuführen“, die „Schwankenden zu erschießen“ und „zwielichtige Elemente“ in Konzentrationslager zu sperren.

Mit dem Dekret „Über den Roten Terror“ wurde diese Politik im September 1918 Gesetz. Die inzwischen nach Moskau umgezogene Regierung verlangte darin nicht nur, „die Sowjetrepublik von den Klassenfeinden zu befreien, weshalb diese in Konzentrationslagern zu isolieren sind.“ Sie forderte auch, alle Personen, die zu weißgardistischen Organisationen, Verschwörungen und Aufständen in Beziehung stünden, zu erschießen und ihre Namen anschließend zu veröffentlichen. Zwischen 250.000 und einer Million Menschen fielen dem frühen kommunistischen Terror zum Opfer – vor allem Unternehmer, Landbesitzer, Geistliche, Offiziere und Mitglieder der Kadettenpartei, aber auch abtrünnige Arbeiter und Soldaten.

Erleichtert wurde der Sieg der Bolschewiki durch die Uneinigkeit ihrer Gegner. Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Kadettenpartei wollten in Russland ein demokratisches System einführen, wohingegen die zaristischen Generäle eine Militärdiktatur anstrebten. Die nicht-russischen Nationen verteidigten ihre Unabhängigkeit, während die russischen Gegner der Bolschewiki das alte Großreich wiederherstellen wollten. Auch das Ausland half den Putschisten: Deutschland hatte 1917 nicht nur Lenin und seiner Entourage die Durchreise ermöglicht. Es hatte sein Regime auch vor dem Untergang bewahrt, indem es erst einen Waffenstillstand und dann einen Friedensvertrag mit Sowjetrussland abschloss. Polen folgte 1920 diesem Beispiel, wodurch die Rote Armee ihre Kräfte auf andere Fronten werfen konnte.

„Tod den Bourgeois und ihren Helfern, es lebe der Rote Terror“ – Transparent vom September 1918

Wie sehr der neue Staat ein Triumph nackter Gewalt war, zeigte sich auch daran, dass er erst nachträglich eine Art Grundgesetz erhielt. Am 31. Januar 1924 beschloss der Zweite Allunionskongress der Sowjets, dass die Deklaration und der Vertrag von 1922 die Verfassung der UdSSR bilden sollten. Direkte und geheime Wahlen gab es demnach nicht. Die Deputierten wurden vielmehr auf Kongressen der Unionsrepubliken öffentlich bestimmt. Auch Gewaltenteilung kannte die Sowjetunion nicht. Das Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees fungierte vielmehr als „oberstes gesetzgebendes, exekutives und administratives Organ“, bei dem auch Entscheidungen des Obersten Gerichts angefochten werden konnten. Zur Bekämpfung von „politischer und wirtschaftlicher Konterrevolution“ wurde schließlich auch eine neue, zentrale Geheimpolizei gebildet: die Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung (OGPU), die weiterhin Dzierżyński unterstand.

Im Unterschied zum Zarenreich gewährte die Verfassung den einverleiben Nationalstaaten allerdings de jure auch die Möglichkeit, die Union wieder zu verlassen. „Nur im Lager der Sowjets,“ so hieß darin, „wurde es möglich, die nationale Unterdrückung mit der Wurzel auszurotten, eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens zu schaffen und das Fundament für eine brüderliche Zusammenarbeit der Völker zu legen.“ Vor allem Lenin hatte sich dafür stark gemacht, die Fiktion eines freiwilligen Zusammenschlusses festzuschreiben – auch um weiteren Staaten den Beitritt schmackhaft zu machen. Die Austrittsklausel wurde auch in die Verfassungen von 1936 und 1977 übernommen.

Putins Trauma

Genau diese Bestimmung war es, die knapp 70 Jahre später zum Ende der Sowjetunion führte: Als die Moskauer Führung unter Michail Gorbatschow den Republiken Ende der 1980er-Jahre größere Freiheiten gewährte, erklärten die baltischen Staaten sowie Armenien und Georgien ihre Unabhängigkeit. Nach dem gescheiterten Moskauer Putsch sowjetischer Hardliner im August 1991 traten auch die verbliebenen 15 Unionsrepubliken – bis auf Russland – aus der UdSSR aus. Zum Jahresende lösten sie die Sowjetunion endgültig auf.

Nach und nach ausgetreten – Pressefoto nach der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 (4)

Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnete der russische Präsident Wladimir Putin 2005 als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Das unerwartete Ende der UdSSR ist auch sein persönliches Trauma, da er als junger KGB-Offizier in besonderer Weise für die Sicherheit des Staates verantwortlich war. Die bolschewistische Nationalitätenpolitik macht er Lenin deshalb bis heute zum Vorwurf. Und je länger er an der Macht ist, desto mehr sieht er es als seine Mission, das einstige russische Großreich wiederherzustellen.

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Doch im Unterschied zu Putin hatten die Kommunisten den Anspruch, durch Industrialisierung, Bildung und marxistische Indoktrination einen neuen „Sowjetmenschen“ zu schaffen. Demgegenüber hat Russlands Präsident außer Erpressung, Krieg und nationalem Chauvinismus wenig zu bieten. Dass er damit mehr Erfolg hat als die Bolschewiki ist eher unwahrscheinlich – vorausgesetzt, dass der Gewalt diesmal entschlossener entgegengetreten wird als vor 100 Jahren, als im Moskauer Bolschoi-Theater die Sowjetunion gegründet wurde.

Bildnachweis
(1) Jakow Wladimirowitsch Steinberg
(2) Stepan Dudnik
(3) RIA Novosti Archiv, image #41059 / Dmitryi Donskoy / CC-BY-SA 3.0

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