Warum der Osten anders wählt

Viel Zuspruch in Ostdeutschland - BSW-Bundestagsabgeordnete Sarah Wagenknecht und AfD-Politiker Björn Höcke

Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben gezeigt: Immer mehr Ostdeutsche wenden sich von den traditionellen Parteien ab. Doch anders als viele meinen, ist dadurch nicht die Demokratie gefährdet. Im Gegenteil: Die Entwicklung demonstriert, dass der Parlamentarismus in Deutschland funktioniert.

Von Hubertus Knabe

vgwort

Demokratien zeichnen sich dadurch aus, dass man die Regierung abwählen kann. Das passiert immer dann, wenn eine Mehrheit der Wahlberechtigten mit der herrschenden Politik nicht einverstanden ist. Die Möglichkeit, politische Änderungen auf friedliche Weise herbeizuführen, macht die Überlegenheit des Parlamentarismus gegenüber allen anderen Regierungsformen aus.

Das Grundgesetz erlaubt es auch, dass jeder seine eigene Partei gründen kann. Dadurch haben neue politische Kräfte die Möglichkeit, an der „Willensbildung des Volkes“ mitzuwirken, wie es im Grundgesetz heißt. Voraussetzung für einen Erfolg ist, dass sie Themen ansprechen, die von den bestehenden Parteien nur unzureichend aufgegriffen werden, aber vielen Wählern am Herzen liegen.

Genau dies ist in Sachsen, Thüringen und Brandenburg passiert. Anders, als viele meinen, gefährden die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen deshalb nicht die Demokratie. Im Gegenteil: Sie zeigen, dass der Parlamentarismus in Deutschland funktioniert.

Der Parlamentarismus in Deutschland funktioniert – Plenarsitzung des Thüringischen Landtages in Erfurt (2)

Entfremdung von der Bundespolitik

Dass die bislang tonangebenden Parteien so schlecht abgeschnitten haben, haben sie sich größtenteils selbst zuzuschreiben. Denn die politische Unzufriedenheit in Ostdeutschland zeichnet sich schon länger ab und hat sich in den letzten Jahren stetig verstärkt. Statt den Ostdeutschen zu unterstellen, sie litten unter einem „Freiheitsschock“, wären Politiker und Journalisten gut beraten, darüber nachzudenken, was sie selbst zu den jüngsten Wahlergebnissen beigetragen haben.

Die Entfremdung von der Bundespolitik – und diese spielte bei den Wahlen im Osten die entscheidende Rolle – begann schon unter Angela Merkel. Unverständnis lösten bereits 2010 die milliardenschweren Griechenlandhilfen aus. Fünf Jahre später sorgte die Unfähigkeit, den Zustrom von fast 900.000 Asylsuchenden zu stoppen, erstmals für massive Zweifel an der Handlungskompetenz der Bundesregierung. Das hektische Agieren während der Corona-Pandemie und die teils widersinnigen Freiheitsbeschränkungen beschädigten weiter das Vertrauen. Die CDU, die als hauptverantwortlich für diese Entwicklung galt, wurde bei den Bundestagswahlen 2021 im Osten mit 16,9 Prozent abgestraft.

Die Hoffnung, dass die Ampelregierung nach 16 Jahren Merkel einen anderen politischen Weg einschlagen würde, wich schon bald der Ernüchterung. Die Entfremdung nahm sogar noch zu. Viele empfanden die rot-grün-gelbe Politik als weltfremd, ideologisch und übergriffig. Ältere Ostdeutsche fühlten sich immer öfter an die Zeit der DDR erinnert.

Weltfremd, ideologisch und übergriffig – Energiespar-Propaganda in der DDR

Eine wenig beachtete Zäsur bildete das Vorhaben, 2022 eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus einzuführen. Dass der Staat sich anmaßen wollte, über den eigenen Körper zu verfügen, sorgte bei vielen für Empörung. Zugleich verstärkte sich das Gefühl, den Politikern, die das verlangten, hilflos ausgeliefert zu sein. Diese Erfahrung wirkt bis heute nach.

Das gilt auch für das Heizungsgesetz der Ampel im vergangenen Sommer. Dass die Bundesregierung Hausbesitzern vorschreiben wollte, nur noch Heizungen einzubauen, die zu 65 Prozent durch erneuerbare Energien betrieben werden, löste massive Ängste aus. Da dies bei den meisten Häusern nur durch teure Wärmedämmung möglich ist, fürchteten viele, dass sie sich bei einem plötzlichen Heizungsausfall hoch verschulden müssten. Der dadurch eingetretene Vertrauensverlust konnte auch durch das spätere Einlenken der Bundesregierung nicht mehr aus der Welt geschafft werden.

Überhaupt hat die Energiepolitik erheblich zur Abkehr von den Regierungsparteien beigetragen. Dass Deutschland nicht nur seine Kohlekraftwerke nach und nach abschaltet, sondern zugleich auch seine Atomkraftwerke stillgelegt hat, will vielen Wählern nicht einleuchten. Dass es gleichzeitig auch noch die Gas- und Öllieferungen aus Russland gestoppt hat, wirkt auf manche geradezu selbstmörderisch. Die von der Regierung künstlich verteuerten Strompreise lassen viele eine schleichende Deindustrialisierung Deutschlands fürchten. Schon jetzt treffen die hohen Energiepreise jeden einzelnen, wenn er seine Stromrechnung bezahlen muss.

Schleichende Deindustrialisierung Deutschlands – Stillgelegtes Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald

Ausufernde Bürokratie

Zur Entfremdung vom Berliner Politikbetrieb hat auch beigetragen, dass die Bürokratie in Deutschland nicht kleiner, sondern größer geworden ist. Betroffen sind davon vor allem kleine Unternehmen, von denen es im Osten überdurchschnittlich viele gibt. Dieser Aspekt wird von Politikern und Journalisten vielfach unterschätzt, weil es sie selbst kaum betrifft.

Seit Inkrafttreten des Hinweisgeberschutzgesetzes im Juli vergangenen Jahres muss zum Beispiel jeder, der mehr als 49 Mitarbeiter beschäftigt, eine sogenannte Meldestelle einrichten. Das Gesetz wurde auch von der Union mit abgenickt. Das deutsche Steuersystem und zahllose weitere Vorschriften führen dazu, dass sich Selbständige immer mehr mit unproduktiver Arbeit als mit ihrer eigentlichen Tätigkeit beschäftigen müssen. Ein Fleischermeister aus Thüringen hat unlängst dargelegt, wie viel Mühe ihm allein die Umsatzsteuererklärung macht, weil eine Bockwurst anders besteuert wird, wenn man sie aus der Hand isst, als wenn man sie im Laden auf einem Stehtisch ablegt.

Last but not least ist die Ukraine-Politik zu einem Stein des Anstoßes geworden. Viele Ostdeutsche erkennen im Agieren der Bundesregierung keine Strategie. Vor allem stößt ihnen auf, dass kein Ende des Krieges in Sicht ist. Statt proaktiv in Erscheinung zu treten, erweckt der Bundeskanzler den Eindruck, dass er den Entwicklungen widerwillig hinterher trottet. Mit einer solchen Politik kann man Wähler kaum überzeugen.

Bundeskanzler ohne Strategie – Wahlplakat mit Olaf Scholz zur Bundestagswahl 2021

Hinzukommt noch ein weiterer Punkt: In den Augen vieler Ostdeutscher kümmert sich die Ampelregierung vor allem um kleine Minderheiten und nicht um die breite Bevölkerung. Die Ernennung zahlreicher Antidiskriminierungs- oder Queer-Beauftragter und die Einrichtung diverser Meldeportale halten viele für eine Verschwendung von Steuermitteln. Dass sich jeder Mann seit dem 1. August zur Frau erklären kann, erntet nur noch Kopfschütteln. Das Fass zum Überlaufen brachte die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, als sie einem Frauenfitnessstudio schrieb, es solle 1.000 Euro Entschädigung zahlen, weil es eine „Frau“ mit männlichen Geschlechtsmerkmalen dort nicht duschen lassen wollte.

Diese Aufzählung wäre nicht vollständig, wenn sie die Rolle der Medien außer Acht lassen würde. Vor allem die öffentlich-rechtlichen werden in den Augen vieler Ostdeutscher ihrer Aufgabe als kritisches Korrektiv schon länger nicht mehr gerecht. Die regelwidrige Änderung der deutschen Sprache durch das Gendern hat diese Ablehnung noch verstärkt. Immer mehr Wähler sind deshalb zu alternativen Medien abgewandert. Diese bestärken sie kontinuierlich in ihrer Regierungskritik, was die Entfremdung weiter vertieft.

Wählerbeschimpfung statt Selbstreflektion

Politik und Medien haben auf all dies nur in Ausnahmefällen mit kritischer Selbstreflektion reagiert. Umso häufiger ergingen sie sich in Wählerbeschimpfung. Der thüringische Innenminister Georg Maier, dessen Partei am 1. September gerade einmal 6,1 Prozent der Stimmen bekam, möchte die fünfmal erfolgreichere AfD kurzerhand verbieten. Wissenschaftler beteiligen sich an dieser Hau-drauf-Politik, indem sie in methodisch fragwürdigen Studien behaupten, Judenfeindlichkeit und die Befürwortung einer Diktatur fänden im Osten bei einem Drittel der Bevölkerung Zustimmung. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bescheinigte den Ostdeutschen gar eine „präfaschistische Disposition“.

„Präfaschistische Disposition“ – SA-Parade mit Adolf Hitler beim Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1935 (3)

Umfragen ist dagegen zu entnehmen, dass im vergangenen Jahr nur 32 Prozent der AfD-Wähler von der Partei „überzeugt“ waren. Die große Mehrheit – 67 Prozent – war demgegenüber „von den anderen Parteien enttäuscht“. Ihre Wahlentscheidung begründeten sie zuerst mit der Migrationspolitik (65 Prozent), dann mit der Energiepolitik (47 Prozent) und schließlich mit der Wirtschaftspolitik (43 Prozent). Da es in Ostdeutschland weniger Stammwähler gibt, wirkt sich diese Unzufriedenheit dort deutlich stärker aus. Doch je länger sich die regierenden Parteien über die Kritik hinwegsetzen, desto größer ist die Gefahr, dass aus Protestwählern Stammwähler werden.

Wer nach Wegen sucht, dem entgegenzuwirken, dem sei ein Blick in die Vergangenheit empfohlen. Vor dreißig Jahren gab es schon einmal eine ähnliche Konstellation, nur unter umgekehrten politischen Vorzeichen. Die Staatspartei der DDR hatte sich 1990 in PDS umbenannt und erlebte bald ähnliche Wahlerfolge wie heute die AfD. Die bestehenden Parteien lehnten jede Art der Zusammenarbeit ab, während der Verfassungsschutz in der PDS „tatsächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen“ konstatierte.

Ostdeutsche SPD-Politiker suchten dennoch die Kooperation. Wolfgang Thierse schrieb 1994, die PDS sei auf kommunaler Ebene als Partner „unvermeidbar“. Vier Jahre später schmiedete die SPD in Mecklenburg-Vorpommern die erste rot-rote Koalition. Anders als befürchtet, kehrte dadurch nicht der Sozialismus zurück, sondern die Honecker-Erben wurden pragmatischer und Teil des politischen Establishments. Als sie nicht mehr zur Protestpartei taugten, endete ihr Höhenflug.

Teil des politischen Establishments – Der ehemalige Arbeitsminister der ersten rot-roten Koalition Helmut Holter (4)

Eine ähnliche Entwicklung dürfte über kurz oder lang auch AfD und BSW bevorstehen. Sie wird aber erst dann eintreten, wenn sie nicht länger wie Teufelszeug behandelt werden. Wer das Gegenteil fordert, sollte bedenken: Wenn niemand mit einem spricht, muss man auch auf niemanden Rücksicht nehmen.

Auch wenn einem die Inhalte und das Personal der beiden Parteien nicht gefallen, wird es Zeit, sich das Scheitern der sogenannten Brandmauer einzugestehen. Der deutsche Parlamentarismus ist stark genug, auch diese beiden Gruppierungen einzubinden. Vor allem aber müssen die alten Parteien unter Beweis stellen, dass sie die Probleme besser lösen können als die neue Konkurrenz. Erst dann kann man von einem wirklichen Sieg der Demokratie sprechen.

Bildnachweis:
(1) Steffen Prößdorf / CC BY-SA 4.0; Sandro Halank / CC BY-SA 4.0
(2) Image: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu); Licence: CC BY-SA 3.0-de
(3) ) Keystone View Company Berlin / CC BY-SA 4.0 (koloriert)
(4) Image: Olaf Kosinsky (kosinsky.eu); Licence: CC BY-SA 3.0-de

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