Vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland fordern AfD und BSW ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine. Laut Umfragen wollen über 40 Prozent diese Parteien wählen. Das Verständnis für Russland hat nicht nur historische, sondern auch aktuelle Gründe.
Von Hubertus Knabe
Im Osten Deutschlands, das haben die Europawahlen im Juni gezeigt, wächst die Bereitschaft, Putins Gewaltpolitik zu akzeptieren. Parteien, die Sanktionen gegen Russland ablehnen und ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, erreichten dort zusammen fast 50 Prozent. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Umfragen zu den bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Woher kommt die Russlandnähe vieler Ostdeutscher – und wie sollten Politik und Medien damit umgehen?
Wie so oft, gibt es auf diese Fragen keine einfachen Antworten. Verschiedene Faktoren greifen hier ineinander und bestärken sich gegenseitig. Da sind zum Einen die Nachwirkungen der DDR-Geschichte. Diejenigen, die das SED-Regime noch aus eigener Anschauung kennen, sind mit den Parolen von der „unverbrüchlichen Freundschaft“ zur Sowjetunion groß geworden, die mehr oder weniger mit Russland gleichgesetzt wird. NATO und USA galten hingegen als Kriegstreiber, die den Weltfrieden bedrohten. Diese Auffassungen, die der Bevölkerung von der SED-Propaganda jahrzehntelang eingeimpft wurden, sind mit dem Ende der DDR nicht einfach verflogen, sondern leben in Vereinen, Kleingartenanlagen, Freundeskreisen und Familien fort. Umfragen zeigen, dass die Verklärung der sozialistischen Vergangenheit sogar an Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird.
Im Vergleich zu anderen Ostblockstaaten fiel die anti-westliche Indoktrination in der DDR auf besonders fruchtbaren Boden. Zum Einen weil die idealistischen Deutschen mehr als andere Völker dazu neigen, an die Ideologien ihrer Diktaturen auch zu glauben. Zum anderen weil sich viele von ihnen für den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistischen Massenverbrechen schuldig fühlten. Bis zuletzt instrumentalisierte die SED dieses Schamgefühl, um die sowjetische Fremdherrschaft über Ostdeutschland und damit ihre eigene Diktatur zu rechtfertigen. Noch während der Friedlichen Revolution 1989 wirkte der zur Schau getragene „Antifaschismus“ der DDR auf viele Intellektuelle als „Loyalitätsfalle“, wie die ostdeutsche Psychotherapeutin Annette Simon den Mechanismus einmal nannte.
Ausgelöschte Erinnerung
Mit Unterdrückern kommen Menschen psychisch besser zurecht, wenn sie sich mit ihnen identifizieren. Die Identifikation mit dem Aggressor ist ein Abwehrmechanismus zur Angstbewältigung. Deshalb sollen Geiseln einer Entführung nach einiger Zeit Empathie für die Täter entwickeln. Viele DDR-Bürger haben das mit den bis zu 500.000 Rotarmisten in Ostdeutschland ähnlich gemacht. Wenn sie heute an die sowjetische Besatzung zurückdenken, empfinden sie eher Mitleid als Ablehnung.
Hinzukommt noch ein weiterer Faktor: In Diktaturen ist man gut beraten, Konflikten mit den Mächtigen aus dem Weg zu gehen. Konfliktvermeidung erhöht die Chance auf ein einigermaßen ungestörtes Leben. Die Hoffnung vieler Ostdeutscher, Putin durch Entgegenkommen ruhig zu stellen, entspricht genau dieser Haltung. In demokratischen Gesellschaften lernt man dagegen frühzeitig, Konflikte auszutragen und sich nach Möglichkeit auch durchzusetzen – im Kleinen wie im Großen.
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Von Bedeutung ist auch das oftmals naiv-romantische Russland-Bild in Ostdeutschland. Nur auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass es ausgerechnet dort besonders verbreitet ist, wo die Truppen des Kremls furchtbare Verbrechen begingen. Doch über die Plünderungen, Vergewaltigungen und Erschießungen beim Einmarsch der Roten Armee durfte in der DDR nicht gesprochen werden. Von den Massenverhaftungen und Folterungen in den Gefängnissen erzählte man, wenn überhaupt, höchstens im Flüsterton. Die über 3000 Hinrichtungen, die Deportationen in den Gulag, das zehntausendfache Sterben in den von den Sowjets wieder eröffneten Konzentrationslagern – all dies hat die SED aus dem kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen nahezu vollständig ausgelöscht.
Selbst die weniger weit zurückliegenden Erfahrungen mit der Besatzungsmacht haben viele verdrängt. Sexuelle Übergriffe, Einbrüche, Schlägereien, Unfälle mit Fahrerflucht und gefährliche Schießereien von Rotarmisten gehörten in der DDR zum Alltag. Die Archive sind voller Beschwerden, die indes fast nie etwas bewirkten. Selbst als die Ehefrau eines MfS-Mitarbeiters einmal unsittlich belästigt worden war und die Stasi mit Hilfe des KGB den Schuldigen ermitteln wollte, musste sie vermerken: „Ergebnis: nichts passiert“. Vergessen haben die meisten auch, was es bedeutet, ein besetztes Land zu sein: Sowjetische Truppen beschlagnahmten in Ostdeutschland rund 36.000 Gebäude und Flächen von der Größe des Saarlandes. Erst 1994, bei ihrem Abzug, gaben sie sie – vielfach verseucht oder zerstört – an die Bewohner zurück.
Versäumte Aufklärung
Anders als in Polen oder im Baltikum kamen diese Erfahrungen auch nach dem Ende der DDR kaum zur Sprache. Nur sehr kurz, als 1990 die Massengräber der sowjetischen Speziallager freigelegt wurden, rückten die Besatzungsverbrechen in Ostdeutschland in den Fokus einer breiten Öffentlichkeit. Doch schon bald pflegten Politiker, Journalisten und Historiker wieder ein geschichtliches Narrativ, das Russland ausschließlich als Opfer sah und vor Moskaus brutalem Imperialismus die Augen verschloss.
Im der ehemaligen DDR wurde dieses verzerrte Bild vor allem von der PDS gepflegt, wie sich die SED seit 1990 nannte. Ab Mitte der 1990er Jahre erlebten Honeckers Erben in Ostdeutschland einen ähnlich rasanten Aufstieg wie heute AfD und BSW. Doch auch die anderen Parteien setzten der Legende vom vermeintlich „guten“ Anfang der DDR kaum etwas entgegen. Lieber schwärmten sie für Gorbatschow, pflegten einen romantisierenden Dialog mit Moskau und übernahmen die Lesart der SED, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die Rote Armee eine Befreiung gewesen wäre.
Das alles liegt inzwischen lange zurück. Die Überlebenden des Gulag, die nach der Wiedervereinigung für eine angemessene Erinnerung an die Schrecken der Besatzungszeit kämpften, sind fast alle verstorben. Geblieben sind dagegen die propagandistischen sowjetischen Heldendenkmäler und ein nostalgisches Museum „Roter Stern“ im einstigen Hauptquartier der russischen Streitkräfte in Wünsdorf. Lückenhaft und beschönigend ist auch die von der Bundesregierung finanzierte Ausstellung im Berliner Kapitulationsmuseum, in dessen Aufsichtsrat bis heute die russische Regierung sitzt. Im Geschichtsunterricht spielen die Verbrechen der Roten Armee erst recht keine Rolle.
Das Versäumnis, darüber aufzuklären, schafft für putinfreundliche Propaganda einen fruchtbaren Boden. Viele Ostdeutsche denken zum Beispiel, Russland sei im Grunde ein friedfertiges Land, mit dem man sich nur arrangieren müsse. Dann gäbe es wieder billiges Öl und man bräuchte sich keine Gedanken über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder den Aufbau einer schlagkräftigen Bundeswehr machen. Im Westen ist vielen dagegen bis heute bewusst, dass sie ihre Freiheit nur der Stärke der NATO und der Unterstützung der USA im Ost-West-Konflikt zu verdanken haben.
Dass diese Lehre der Geschichte im Osten so wenig präsent ist, hat freilich auch einen aktuellen Grund: Viele Ostdeutsche empfinden den Berliner Politik- und Medienbetrieb als abgehoben, übergriffig und ideologisch. Die Unzufriedenheit, vor allem über die Energie- und Migrationspolitik, hat sich durch jahrelange Missachtung immer mehr verfestigt. Das Misstrauen gegenüber der Bundesregierung – und hier insbesondere gegenüber den Grünen – ist inzwischen so groß, dass ihr viele auch in der Ukraine-Politik nicht mehr über den Weg trauen. Nach dem Motto „Der Feind meines Feindes, ist mein Freund“ schlagen sie sich deshalb reflexhaft auf die Seite Russlands.
Gegen diese Entwicklung hilft nur sachliche Aufklärung und eine Politik, die den Menschen weniger hochnäsig entgegentritt. Der hasserfüllte Tonfall vieler Politiker und Journalisten gegenüber der AfD erzeugt im Osten Gleichgültigkeit und Trotz. Auch ihre Diskriminierung in den Parlamenten und die Beschimpfung ihrer Wähler machen sie nur stärker – und radikaler. Bevor Politik und Medien über die Ostdeutschen richten, sollten sie sich deshalb erst einmal an die eigene Nase fassen und fragen, was sie selbst zu deren Wahlverhalten beigetragen haben.
Das verlorene gegangene Vertrauen lässt sich nur durch eine Politik zurückgewinnen, die Probleme löst, statt sie zu tabuisieren. Im fairen Streit um die besseren Konzepte dürften auch die Wähler von AfD, BSW und der Linken erkennen, dass der ehemalige KGB-Offizier Putin am Ende nur durch Stärke zu beeindrucken ist. Denn auch für den Krieg in der Ukraine gilt, was der aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann einmal so formulierte: Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.
Lesetipp: Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland.
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(1) BArch MfS BV_Dresden Abt. OT Fo 1191-6