Mehr als eine Million Menschen fielen den jahrzehntelangen Kämpfen in Kolumbien zum Opfer. Ein ausgefeiltes System der Vergangenheitsbewältigung soll die Gewalt beenden. Doch der Erfolg lässt auf sich warten.
Von Hubertus Knabe
Als Cecilia Arenas an den 21. Februar 2008 zurückdenkt, steigen ihr Tränen in die Augen. An diesem Tag bot ein Mann im kolumbianischen Soacha ihrem Bruder eine Arbeit an. Mit 18 jungen Männern verließ er seinen Heimatort und kehrte nie wieder zurück. Ein halbes Jahr später erhielt ihre Mutter einen Anruf, ihr Sohn sei als Guerillero im Kampf getötet worden.
Cecilias Bruder hat niemals der Guerilla angehört. Er zählt zu den 6402 „Falsos Positivos“ (falsche Positive), die das Militär erschoss, um Erfolge im Kampf gegen die „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (FARC) vorzuweisen. Die Toten bekamen Uniformen angezogen und eine Waffe in die Hand gedrückt, dann wurden sie anonym begraben. Als Cecilia endlich durchsetzen konnte, den Leichnam nach Bogotá zu überführen, musste sie erst nachprüfen, ob es wirklich ihr Bruder war: „Wir öffneten die Plastiktüte und es strömte ein schrecklicher Geruch heraus. Aber sein Gesicht konnte ich noch erkennen.“
Cecilias Bruder ist eines von über einer Million registrierten Opfern der jahrzehntelangen Gewalt in Kolumbien. Ab Ende der 1940er Jahre tobte ein Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen mit mehr als 200.000 Toten. Als sie schließlich die Macht unter sich aufteilten, formierten sich linke Guerillagruppen, die Tausende Menschen entführten und zahllose Soldaten und Polizisten ermordeten. Als Reaktion entstanden paramilitärische Bürgerwehren, die ganze Dörfer niedermetzelten, wenn sie als Sympathisanten der Guerilla galten. In den Kämpfen, die zunehmend durch Drogenhandel finanziert wurden, starben allein zwischen 1985 und 2016 mehr als 450.000 Menschen.
Um der Gewalt ein Ende zu setzen, schloss die Regierung mit den bewaffneten Gruppen mehrfach Friedensabkommen. 2005 gaben 14 000 Paramilitärs im Tausch gegen eine Amnestie ihre Waffen ab. 2016 wurde nach langen Verhandlungen in Havanna auch mit der der FARC ein Friedensvertrag geschlossen. Neben politischen Reformen und weitgehender Straffreiheit sah dieser erstmals eine Aufarbeitung der Vergangenheit vor.
Experimentierfeld Aufarbeitung
Mit massiver finanzieller Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat sich Kolumbien seitdem zum größten Experimentierfeld im Umgang mit schwersten Menschenrechtsverletzungen entwickelt. Allein das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben den Friedensprozess seit 2016 mit gut 200 Millionen Euro subventioniert, sogar ein eigenes Friedensinstitut betreibt Deutschland in Bogotá. Die Zahl der Mitarbeiter von Opferverbänden, Gedenkstätten und Aufarbeitungsinstitutionen geht in die Tausende.
Mit 1200 Mitarbeitern leistete sich Kolumbien zum Beispiel die größte Wahrheitskommission der Welt. An ihrer Spitze standen elf hauptamtliche Experten, denen im ganzen Land 19 „Häuser der Wahrheit“ zuarbeiteten. „Jedes Mitglied war für eine bestimmte Region zuständig, und einmal in der Woche haben wir uns getroffen,“ erzählt der Anthropologe Alejandro Castillejo, der zu den elf Kommissionären gehörte. Von 2018 bis 2022 hörten sie über 1000 Kämpfer aller Seiten an und sammelten fast 28.000 Zeugenaussagen, ihr 12-bändiger Abschlussbericht sprengt mit rund 8000 Seiten alle Dimensionen. Die Kernaussagen werden seit Februar im Versöhnungszentrum von Bogotá in einer aufwändigen Ausstellung präsentiert, die maßgeblich von Deutschland finanziert wurde.
Während Anhänger des linken Präsidenten Gustavo Petro, selbst ein ehemaliger Guerillero, die Arbeit der Kommission loben, zeigt sich das konservative Lager weniger zufrieden. „Viele denken, der Bericht ist nur ein Teil der Wahrheit,“ sagt zum Beispiel der Direktor des privaten Instituts für Politikwissenschaft, Carlos August Chacón. Ein ganzes Kapitel widme sich zwar der Verstrickung der USA, aber keines der der Sowjetunion oder Kubas. Und während die Verbindungen zwischen Geschäftsleuten und Paramilitärs ausführlich beschrieben würden, kämen die zwischen FARC und linken Bewegungen nirgends zur Sprache.
Noch kritischer sehen viele Militärs den Bericht. Der einzige Armeevertreter in der Kommission, der Vorsitzende der Vereinigung militärischer Opfer Carlos Ospina, trat 2022 zurück, weil er von den übrigen Mitgliedern „stigmatisiert“ worden wäre. „Opfer in Uniform waren der Kommission weniger wichtig,“ beklagt auch Oberst José Obdulio Espejo, der der Kommission in Dutzenden Kolumnen zahlreiche Fehler vorwarf. Die Dokumente, die das Militär der Kommission übergeben hätte, seien nicht einmal in einer Fußnote erwähnt worden.
Mit Misstrauen betrachten die Konservativen auch eine andere Aufarbeitungsinstitution: die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP). Mit 1500 Mitarbeitern und 25 Außenstellen sollen 38 gewählte Richter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, die gemäß Völkerstrafrecht nicht mehr amnestierbar sind. Massenmörder, die sich dem Gericht stellen und ihre Verantwortung einräumen, dürften jedoch in der Regel mit Wiedergutmachungsarbeiten davonkommen. Nur wer seine Schuld bestreitet, kann von einer anderen Kammer mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft werden. Das ausgefeilte System wirkt wie eine Weiterentwicklung der südafrikanischen Wahrheitskommission.
Erst durch die JEP hat Cecilia Arenas erfahren, dass ihr Bruder unschuldig ermordet wurde. In Workshops wurde sie zwei Jahre lang auf eine Begegnung mit den verantwortlichen Militärs vorbereitet, dann kamen Täter und Opfer drei Tage in einem Hotel zusammen. „Wir konnten alles fragen,“ erinnert sie sich, „wer gab den Befehl, wie viel habt Ihr dafür bekommen?“ Schließlich wurden die Militärs nach Soacha gebracht, wo sie sich öffentlich entschuldigen mussten. Jetzt verhandeln ihre von der JEP gestellten Verteidiger mit den Angehörigen der Opfer über eine Wiedergutmachung. Vorgeschlagen haben sie die Errichtung eines Denkmals oder Auftritte in Schulen. In einer öffentlichen Verhandlung, die gefilmt und im Fernsehen übertragen wird, legt das Gericht am Ende die Sühnemaßnahme fest.
Opfer im Mittelpunkt
„Der Hauptbeitrag der JEP,“ sagt deren Präsident Carlos Vidal, „besteht darin, die Opfer in den Mittelpunkt zu rücken.“ Für Juristen sei das etwas völlig Neues. Sie müssten nicht nur ihre Sprache ändern, sondern auch die Herzen der Menschen erreichen. Nicht die Bestrafung der Täter sei das Ziel, sondern Wahrheit, Wiedergutmachung und Versöhnung. Allerdings kommt eine weitere Mammut-Behörde, die „Einheit der Opfer“, bei der Entschädigung nicht hinterher, weil sie auch noch knapp sieben Millionen Vertriebene versorgen muss.
Angesichts des Ausmaßes der Gewalt verfolgt die JEP keine individuellen Taten, sondern sogenannte Makrofälle. Dazu ermittelt sie zu ausgewählten Verbrechenskomplexen wie Entführungen, die Rekrutierung von Kindern oder die Gewalttaten in besonders betroffenen Regionen. Meist geht es dabei um Tausende von Opfern und Hunderte von Tätern, von denen jedoch nur die Entscheidungsträger angeklagt werden. „Die Verhandlungsführer in Havanna dachten, nur die obersten sechs Verantwortlichen würden vor Gericht gestellt,“ sagt Gerichtspräsident Vidal, „doch wir haben erheblich mehr ermittelt. Wir können zwar nicht 12.000 Kämpfer verurteilen, aber 500 werden es wohl werden.“
Dabei sitzt der JEP die Zeit im Nacken, denn laut Friedensvertrag bleiben ihr für die Ermittlungen nur noch drei Jahre Zeit – wenn ihr Mandat nicht 2027 um fünf Jahre verlängert wird. Noch hat sie kein einziges Urteil gefällt. Schwierig für das Gericht ist es auch, die Wiedergutmachungsarbeiten zu organisieren, weshalb es gerade eine neue Abteilung aus Planern und Technikern aufbaut. Zusammen mit dem Bürgermeister von Bogotá wird jetzt das erste Vorhaben gestartet: Unter Beteiligung von Opfern sollen 40 Täter Bäume für einen Pilgerweg pflanzen.
Ob Kolumbien durch diese Maßnahmen friedlicher wird, ist ungewiss. Seit 2020 steigt die Zahl der neu registrierten Opfer wieder an. Der Staat ist nicht einmal in der Lage, den Schutz der demobilisierten FARC-Kämpfer zu gewährleisten, über 400 wurden bereits erschossen. Und in den von der FARC geräumten Gebieten breiten sich andere bewaffnete Gruppen aus, so dass es immer wieder zu Massakern oder Morden an politischen Aktivisten kommt.
Immerhin hat die FARC Vertretern der Vereinten Nationen rund 9000 Waffen übergeben. Die Künstlerin Doris Salcedo nutzte das eingeschmolzene Metall als Fußboden für ein „Gegen-Denkmal“ in Bogotá, eine Gruppe vergewaltigter Frauen bearbeitete den Boden symbolisch mit Hämmern. Für die Zukunft entscheidender dürfte freilich sein, ob sich die Ex-Guerilleros eine neue, zivile Existenz aufbauen können, wofür sie Unterkünfte und 2000 Dollar Starthilfe erhielten. Eine Gruppe von Genossen hat damit zum Beispiel in Bogotá ein „Haus des Friedens“ gegründet, wo sie nun selbst gebrautes Bier verkaufen.
Ein anderes Gebäude steht dagegen seit Jahren unvollendet am Straßenrand: das 2011 beschlossene Nationale Museum der Erinnerung. Der riesige Rohbau wirkt wie ein Menetekel für den Friedensprozess, der das Jahrhundert der Gewalt in Kolumbien eigentlich beenden sollte.
Literatur:
Kai Ambos/Stefan Peters: Transitional Justice in Colombia. The Special Jurisdiction for Peace, Baden-Baden 2022,
German Colombian Peace Institute – CAPAZ (Hrsg.): Wahrheitskommission Kolumbien, Baden-Baden 2014.
Bildnachweis:
(1) National Police of Colombia / CC BY-SA 2.0